"Willy Brandt wurde Opfer einer Treibjagd"

Seite 2: Willy Brandt hätte der SPD die Gründung und Konkurrenz der Grünen erspart

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War es denn überhaupt legitim, dass auch Helmut Schmidt Bundeskanzler werden wollte?

Albrecht Müller: Ja, das war legitim. Aber man muss ja wohl fragen, ob hier der Bessere der Feind des Guten war - und mit welchen Methoden der Wechsel erreicht worden ist. Helmut Schmidt war ein sehr guter Bundeskanzler. Aber Willy Brandt war keinesfalls schlechter, sondern aus vielerlei Gründen der Richtige, unter anderem, weil er die ökologische und die soziale Frage gesehen hat. Er hätte der SPD die Gründung und Konkurrenz der Grünen erspart.

Vielleicht findet Helmut Schmidt zum 100. Geburtstag von Willy Brandt noch die richtigen Worte: "Wir waren beide gute Bundeskanzler; aber wie ich sein Nachfolger wurde, war nicht die ganz feine Art." - Eine solche Bemerkung würde viele Brandt-Freunde auch mit Schmidt versöhnen.

Woran ist denn Willy Brandt tatsächlich politisch gescheitert?

Albrecht Müller: Er wurde das Opfer einer Treibjagd, an der die CDU/CSU-Opposition mitwirkte, dann Medien wie der Springer- und der Bauer-Konzern, dann Teile der deutschen Wirtschaft und sehr vermögende Leute. Sie starteten seinerzeit mit einem Millionenaufwand eine anonyme Anzeigenkampagne gegen Brandts Politik und Person. Hinzu kamen die skizzierten innerparteilichen Intrigen. Das reichte.

Ist Oskar Lafontaine und Andrea Ypsilanti nicht Ähnliches passiert?

Albrecht Müller: Das beschreibe ich in meinem Buch. Auch Kurt Beck ist in abgeschwächter Form Ähnliches widerfahren.

Albrecht Müller. Foto: © Liesa Johannsen.

Wenn Sie sich die Presseberichterstattung im Vorfeld des 100jährigen Geburtstags ansehen, haben Sie den Eindruck, dass die Treibjagd gegen Brandt weitergeht?

Albrecht Müller: Ja.

"Brandt hätte vermutlich nicht die aktuelle Militärinterventionspolitik mitgetragen"

Will man mit der Person Brandt auch seine Politik diskreditieren?

Albrecht Müller: Natürlich. Man will ihn auch inhaltlich-programmatisch entsorgen. Sehen sie sich doch an, was zurzeit beim Thema Ukraine passiert. Die Blockkonfrontation wird in Europa neu aufgebaut: Dort sind die bösen Russen, hier sind wir guten Europäer und als solche müssen wir, der Westen, die Ukraine zu uns herüberziehen. Im Berliner Programm der SPD aus dem Jahr 1989 war noch von einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung und dem Ende der Blöcke die Rede. Jetzt wird die Konfrontation neu aufgebaut und damit die Grundidee der Ostpolitik mit Füßen getreten.

Willy Brandt hätte vermutlich auch nicht die aktuelle Flüchtlingspolitik und die Militärinterventionspolitik mitgetragen. Heute wird aus ökonomischen Gründen militärisch interveniert und es wird eben nicht bis zum Ende geprüft, ob man Konflikte nicht friedlich lösen kann. Mit dem Denken und dem politischen Ansatz von Willy Brandt hat das wenig zu tun. Wir haben die Kanonbootpolitik wieder und dagegen hätte sich Willy Brandt gewehrt.

Sie schreiben, dass Willy Brandt durchaus bereit war, sich von "pseudolinkem Treiben" abzugrenzen. Andererseits ist es wahr, dass er als Vizekanzler 1968 den Notstandsgesetzen zugestimmt und mit dem "Radikalenerlass" vielen Linken ihre Existenzgrundlage entzogen hat. Wie bringen Sie das mit dem Begriff "Demokratischer Sozialismus" überein?

Albrecht Müller: Ihre zweifelnden Fragen sind berechtigt. Fangen wir beim Letzten an: Willy Brandt hat später den "Radikalenerlass" selbst bedauert; ich fand ihn von Anfang an nicht gut. Brandt war sich seinerzeit nicht klar, was die Länder und der Bund den von der Überprüfungspraxis betroffenen Menschen antut. Damit wurde die wirtschaftliche Existenz von Menschen bedroht, die man eigentlich gerade wegen ihres kritischen Ansatzes in den Schulen und Ämtern gebraucht hätte. Bei den Notstandsgesetzen frage ich mich hingegen bis zum heutigen Tage, was sie bisher an Nachteil gebracht haben sollen. Irgendwann könnten die Kritik daran und die Proteste dagegen mal ein Ende finden.

Sigmar Gabriel hat sich bei seinen Werbetouren für die Große Koalition häufig auf Willy Brandt bezogen: Wenn Sie sich die geschröderte SPD von heute ansehen: Wäre Willy Brandt 2013 überhaupt noch Mitglied bei den Sozialdemokraten?

Albrecht Müller: Er wäre wahrscheinlich ein Sozialdemokrat ohne innere Bindung an den herrschenden Geist, so wie ich. Ich vermute, er hätte die Agenda 2010 abgelehnt. Er hätte wahrscheinlich davor gewarnt, die Arbeitslosenversicherung mit den Hartz-Gesetzen auszuhöhlen.

Dass er die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg gut gefunden hätte, glaube ich nicht. Damals, 1999, sind die Möglichkeiten, zu einer friedlichen Lösung der Konflikte zu finden, nicht genutzt worden. Die Verhandlungen waren von Anfang an auf das Ende mit militärischem Einsatz angelegt. Die Bundesrepublik sollte lernen, sich an militärischen Einsätzen des Westens zu beteiligen, so das Kalkül. Dass Willy Brandt diesen durchschaubaren Einstieg seiner Nachfolger im Kanzleramt und im Parteivorsitz in eine neue Art der Militärpolitik mitgemacht hätte, kann ich mir nicht vorstellen.

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