"Wir Grüne setzen europäischen Mut gegen nationalistische Wut"

Seite 2: "Frau Merkel hat zu Macron viel zu oft Nein gesagt"

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Kurzum: Keine Lösung ohne Geld?

Sven Giegold: Wenn nicht alle gleichermaßen Geflüchtete aufnehmen wollen, ist es nur fair, dass wir zumindest finanziell einen Ausgleich schaffen, um die zu unterstützen, die es tun. Das ist in gewisser Weise auch legitim. All jene Länder, die sich auf Regierungsebene einig sind, könnten ja trotzdem eine Quote vereinbaren. Sie könnten selbstbewusst vorangehen und somit andere Mitgliedstaaten unter Druck setzen. Wir brauchen daher endlich die Bereitschaft, im Mehrheitsverfahren zu entscheiden. Nebenbei bemerkt: Deutschland sollte mit Frankreich viel häufiger gemeinsame Initiativen starten, denen sich andere Staaten anschließen können.

Eine klare Kritik an der Kanzlerin.

Sven Giegold: Natürlich! Frau Merkel hat zu Macron viel zu oft Nein gesagt.

Hätten Sie etwa alle Vorschläge Macrons dankend aufgenommen?

Sven Giegold: Darum geht es nicht. Er hat in Frankreich viele Dinge gemacht, die ich hart kritisiere, Stichworte: Abbau der Bürgerrechte, Sozialabbau. Beim Klimaschutz ignoriert er die soziale Ungleichheit. Aber: Er hat zur Reform und Stabilisierung Europas mutige Vorschläge unterbreitet. Und was kam aus Deutschland, dem engen und wichtigen Partner? Nichts. Ich halte das für einen schweren politischen Fehler. Wir sollten in Europafragen mindestens genauso ambitioniert sein wie unsere französischen Freunde.

Bundeskanzlerin Merkel sagte nun der Süddeutschen Zeitung, es gebe Mentalitätsunterschiede zwischen Macron und ihr sowie Unterschiede im Rollenverständnis. Trotzdem stimmten Deutschland und Frankreich "in den großen Linien natürlich" überein und fänden stets Kompromisse ...

Sven Giegold: Wo sollen die denn liegen? Ich teile Kanzlerin Merkels Verweis auf die unterschiedlichen Rollen ganz und gar nicht. Macron, der junge Politiker, der eben noch nicht weiß, wie schwierig manche Dinge sind? Es reicht aus, einen Blick in die Vergangenheit der Union zu werfen.

Was genau meinen Sie damit?

Sven Giegold: Bei aller Kritik, Helmut Kohl hat, wenn es um Europa ging, immer gekämpft - auch wenn es Risiken gab. Und nur so ist etwas vorangegangen. Heute gibt es bei Union und SPD in der Europapolitik eine Vollkaskomentalität - in der Art: Wir treffen nur die politischen Entscheidung, von denen wir zu hundert Prozent profitieren und die keinerlei Risiko bergen. Nur, solche Entscheidungen gibt es leider in der Realität nicht. Am wenigsten, wenn man sich mit anderen abstimmen muss. Wenn aber gar nichts vorangeht, dann bleiben Probleme ungelöst liegen und wir alle tragen den Schaden. Den Stillstand müssen wir durchbrechen.

Herr Macron strebt derweil ein neues Bündnis im EU-Parlament an. Mit dabei: die FDP. Wie lautet hier Ihre Antwort auf den Vorstoß aus Frankreich?

Sven Giegold: Bei der Wahl kann jede Partei ja für das werben, was sie möchte. Was ich Macron und der FDP hier aber anlaste, ist, dass Macron das Prinzip der europäischen Spitzenkandidaten schwächt und die FDP munter bei dieser Sabotage demokratischer Fortschritte in der EU mitmacht.

Europas Parteienfamilien haben sehr darum kämpfen müssen, dass alle mit eigenen Spitzenkandidaten ins Rennen ziehen, die dann als Kandidaten aus dem Parlament heraus einen Anspruch auf das Amt des Kommissionspräsidenten erheben. Das stärkt den Einfluss des einzig direkt gewählten Gremiums auf Europäischer Ebene ungemein. Es führt dazu, dass die Abgeordneten als direkte Vertreterinnen und Vertreter der Bürger in vielen Dingen stärker mitreden. Dieses Prinzip sollten wir verteidigen, nicht schwächen.

"Menschlichkeit endet nicht am Ausgang eines Flugzeugs"

Herr Giegold, ich lese Ihnen nun drei Passagen aus Ihrem Wahlprogramm vor und bitte Sie, mir die folgenden Fragen kurz zu beantworten. Zum Thema "freiwillige Rückkehr": "Auch eine angemessene Unterstützung für die Zeit nach der Rückkehr ist wesentlich." Frage: Was ist angemessen? Was meinen Sie hier konkret?

Sven Giegold: Für Menschen, die aus ihren Heimatländer flüchten müssen, ist es bisher unmöglich, vor Ort einen Asylantrag für die EU zu stellen. Sie müssen den in Europa stellen und sich dazu auf eine gefährliche und meist sehr teure Flucht begeben, für die sie nicht selten ihr gesamtes Erspartes auflösen. Wollen wir etwa, dass diejenigen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, nach der Rückkehr in ihre Heimat obdachlos werden und sich das Leid dort noch vergrößert? Denen eine Starthilfe zu geben, ist angemessen. Menschlichkeit endet nicht am Ausgang eines Flugzeugs.

Bleiben wir kurz dabei. Ab Juli gilt: Neben einem Zuschuss zu den Reisekosten in ihr Heimatland sollen Betroffene einmalig 1000 Euro bekommen. Außerdem können Rückkehrer bis zu zwölf Monate einen Zuschuss zu den Wohnkosten und die Erstattung medizinischer Leistungen erhalten. Halten Sie das für unangemessen?

Sven Giegold: Das kann ich Ihnen nicht sagen, denn die Umstände in den jeweiligen Ländern werden unterschiedlich sein.

Sollten aus Ihrer Sicht auch diejenigen, die abgeschoben werden, eine derartige Starthilfe erhalten?

Sven Giegold: Bei den Starthilfen geht es um einen Anreiz für eine freiwillige Rückkehr, Rückführungen dagegen sind das letzte Mittel des Rechtsstaates. Klar ist aber auch, dass wir auch für diejenigen Verantwortung haben, die wir zwangsweise ausweisen. Deswegen finden wir es unerträglich, dass aus Deutschland auch in gewaltsame und unsichere Länder abgeschoben wird, in denen Gefahr für Leib und Leben besteht, wie etwa nach Afghanistan.

Das zweite Zitat: "Menschen, die bereits in Europa sind und die in Beschäftigung stehen, sollen im Rahmen eines sogenannten Spurwechsels ins europäische Einwanderungssystem wechseln und hier bleiben können." Frage: Nach wie vielen Arbeitsjahren sollte dies möglich sein?

Sven Giegold: Beim Spurwechsel geht es ja darum, den Menschen, die hier gut integriert sind, einen Aufenthaltstitel zu geben. Es geht um Menschen, die im Job und in der Gesellschaft angekommen sind. Das gibt ihnen ein Stück Perspektive. Und es ist ja auch das, was sich viele Betriebe wünschen, die Geflüchtete eingestellt oder ausgebildet haben. Bislang müssen Erwachsene dafür acht Jahre hier leben, wir wollen diese Voraussetzung auf fünf Jahre senken. Eines will ich im Übrigen noch klarstellen!

Bitte.

Sven Giegold: Grundrechte existieren unabhängig von irgendwelchen Nützlichkeitserwägungen. Das Recht auf Asyl ist nicht verhandelbar. Da bin ich im Übrigen ganz klar anderer Meinung als Sahra Wagenknecht, die sagte, wer sich nicht gut benehme, verwirke seine Rechte. Nein, die Rechte sind unveräußerlich! Wenn jemand einen Ausbildungs- oder Arbeitsvertrag hat, dann ist das doch ein Zeichen dafür, dass er oder sie in dieser Gesellschaft gebraucht wird. Ich erinnere mich besonders gut an einen Betriebsbesuch in Schwaben. Da haben sowohl der Vorstand als auch der Betriebsrat kein einziges politisches Anliegen genannt, also nicht wie früher, irgendwelche Gesetzesänderungen gefordert, sondern schlicht appelliert: Wir haben hier eine Kollegin, die großartige Arbeit leistet und die wir unbedingt brauchen - bitte sorgen sie dafür, dass sie nicht abgeschoben wird! Das zeigt doch wie absurd es ist, wenn wir Leute, die eine Integrationsleistung erbracht haben, rausschmeißen.

"Beim Abschluss von Rückführungsabkommen wollen wir denjenigen Ländern im Gegenzug Unterstützung anbieten, die ihre Staatsbürger*innen schnell und unbürokratisch wieder aufnehmen und ihnen Perspektiven sowie ein Leben in Sicherheit garantieren." Wie genau sollte eine solche Unterstützung aussehen, Herr Giegold?

Sven Giegold: Viele Rückführungen scheitern ja auch deshalb, weil die Bundesregierung mit anderen Ländern darüber nicht ernsthaft verhandelt, sondern lieber in Deutschland große Worte schwingt. Wir wären schon weiter, wenn den anderen Ländern dafür etwas angeboten würde. Ob das finanzielle Unterstützung beim Rücknahmeprozess und der Aufnahme der Geflüchteten ist - oder beispielsweise Studierendenvisa, damit junge Menschen ein paar Semester in Europa studieren können.

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