"Wir haben keinen Laden, wir haben den Staat"

Tunesien: Rached Ghannouchi, Chef der islamistischen Ennahda, spricht in einem Video davon, wie er die Gesellschaft radikal umwandeln will

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Wie moderat ist die islamistische Partei Ennahda oder wie radikal? Ein Enthüllungsvideo, in dem der Parteichef Rached Ghannouchi gegenüber Salafisten, wie Parteikreise später bestätigen, davon spricht, das Modell der tunesischen Gesellschaft etappenweise radikal zu verändern, stellen die Frage in Tunesien mit neuer Dringlichkeit.

Wie so oft bei Leaks, spielt der Zeitpunkt der Veröffentlichung eine wichtige Rolle. Am 23.Oktober sollte der neue Verfassungsentwurf gemäß Fahrplan fertig sein. Dass die Troika genannte Koalition aus der Ennahda, die bei der letztjährigen Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte, und den beiden nicht-religiösen Mittelinks-Parteien, "Congrès pour la république" (CPR) und Ettakatol, bis dahin keinen abstimmungsfähigen Entwurf vorlegen kann, ist absehbar.

Für Kritiker ist das Versäumnis bezeichnend. Für sie fügt es sich in ein generelles Bild von der Ennahda, das deren Schwierigkeiten mit demokratischen Prozessen bloßlegt. Wobei das untertrieben formuliert ist, tatsächlich befürchten viele aus dem liberalen, säkulären Milieu der Gesellschaft, dass die Ennahda die Demokratie unterwandern will. Dass sie eine doppelte Sprache spricht. Nach außen, in der Öffentlichkeit, gebe sie sich demokratisch, nach dem Vorbild der türkischen AKP, wie dies Ennahda-Chef Gannouchi wiederholt betont hat. Gegenüber Islamisten setze die Partei jedoch andere Impulse, gegenüber ihnen vertrete sie Anschauungen, die der Religion und deren Werte Vorrang einräumen.

Insbesondere nachdem die Wut von Salafisten auf der Straße hochkochte, als es um die Ausstrahlung von "Persepolis" ging oder um eine Kunstausstellung, die deren Empörung entfachte, wurde der Ennahda vorgeworfen, dass sie sich von diesen Ausschreitungen nicht eindeutig distanziere, ja mehr noch "im Gespräch auf der Straße" die Einstellungen der Aufgebrachten teile, wenn nicht gar zu solchen Protesten ermuntere. Da obendrein immer wieder von Vorfällen gegen Lokale, wo Alkohol ausgeschenkt wird, berichtet wurde, und von Tugendwächtern an Schulen und Universitäten, sprachen wache Kritiker von einer schleichenden Islamisierung Tunesiens ("Das Ziel ist die Wahabitisierung Tunesiens").

Die Ennahda sorgte auch für greifbare Anhaltspunkte dafür. Beispielsweise mit der Ankündigung ihres Vorhaben, "Angriffe gegen das Heilige" mit einer saftigen Freiheitsstrafe zu sanktionieren. Dieses Blasphemiegesetz, das die Ennahda in die Verfassung einbringen wollte, sorgte für große Beunruhigung. Ebenso wurden Pläne laut, wonach die Ennahda das Personenstandsgesetz in Tunesien in der Verfassung ändern wollte ("Komplementarität" statt Gleichheit). Tunesische Frauenverbände, stolz auf gegenwärtig gültige Verfassung, die Frauen gegenüber als die modernste in den arabischen Ländern gilt, empörten sich darüber, dass die Ennahda die "Gleichstellung der Frau" durch ein Konzept der "Komplementarität" ersetzen wollte.

Regression in die Vormoderne

Dies alles ergab das Bild einer langsamen und stetigen Veränderung des politischen Klimas in Tunesien in Richtung einer rigiden islamistischen Männer-Kultur, einer Regression in eine Vormoderne, die sogar den Autokraten Ben Ali in ein milderes Licht rückte. Als jüngst eine Frau von Polizisten vergewaltigt wurde und sich aber vor dem Staatsanwalt wegen Verstoßes gegen die guten Sitten verantworten sollte, weil die Polizisten sie angeblich in einer "unmoralischen Position" ertappt hätten, war das Fass für viele voll.

Der Anwalt der Frau machte die Islamisten, die Ennahda dafür ein frauenfeindliche, sexistische Obrigkeitskultur verantwortlich, die solche Gewalt, wie sie von den Polizisten begangen wurde, begünstige. Das Opfer sagte übrigens später gegenüber einer französischen Zeitung aus, dass der Vorwurf der "unmoralischen Position" aus der Luft gegriffen war. Sie wurde unter Drohungen dazu gezwungen, ein entsprechendes Papier der Polizisten unterzeichnen. Der Vorfall, egal, ob er nun auch unter dem alten Regime hätte stattfinden können, wurde in der Öffentlichkeit als Skandal gehandelt, der für etwas steht, wofür die Ennahda mitverantwortlich war.

Zwar ließ die Ennahda mittlerweile einige Pläne fallen. Die Scharia soll nicht eigens in der Verfassung verankert werden, bei der Gleichstellung der Frau hat die Partei einen Rückzieher gemacht, und am Freitag hieß es, dass auch das "Blasphemiegesetz", an dem man lange Zeit nicht rütteln wollte, nicht in die Verfassung aufgenommen werden soll. Wie Mustafa Ben Jafaar von der Koalitionspartei Ettakatol präzisierte lag das nicht daran, dass die Mehrheit nichts gegen "Angriffe gegen das Heilige" habe, sondern daran, dass man es nicht geschafft habe, das "Heilige" eindeutig zu definieren.

Die "Demaskierung"

Trotz dieser Schritte wurde die Ennahda das Bild nicht los, dass sie eine besondere Agenda verfolgt, diese aber nicht offen erklärt. Zu diesem Verdacht passt nun das Video, das letzte Woche veröffentlicht wurde. Es stammt von Anfang dieses Jahres. Manche datieren es auf Februar dieses Jahres, andere auf April. Dass das aufgezeichnete Gespräch von Ennahda-Chef Ghannouchi mit zwei Salafisten tatsächlich stattgefunden hat, wird von Ennahdapartei-Mitgliedern bestätigt.

In beiden Unterhaltungen macht Ghannouchi seine Absicht deutlich, die tunesische Gesellschaft in Etappen zu verändern. Seinen Gesprächspartnern gegenüber, die er vor allzu großer Ungeduld warnt, bekräftigt er seine Intention, das soziale Leben und das Familienleben nach islamischen Werten umzustrukturieren. Zuerst müsse jedoch bestimmte Anschauungen in den Massen und besonders bei den Jungen verankert werden.

Wir haben keinen Laden, wir haben den Staat. Also müssen wir warten, das ist nur eine Frage der Zeit. Heute, meine lieben salafistischen Brüder, habt ihr die Kontrolle über die Moscheen. Jeder der einen Radio- oder einen Fernsehsender, eine Koranschule gründen will, soll es machen. Aber warum habt ihr es so eilig. Man braucht Geduld.

Das Zitat stammt aus dem Figaro-Bericht, inhaltlich zitieren jedoch auch andere Quellen (hier oder dort inhaltlich Übereinstimmendes.

Der Tenor: Ghannouchi erklärt den Salafisten, dass man die Scharia und andere wichtige Veränderungen erst dann zum Gesetz machen könne, wenn bestimmte Etappen geschafft sind. Er warnt vor dem Beispiel Algerien, wo die Islamisten zu voreilig gewesen seien. Den Weg zu einer allmählichen Umwandlung der Demokratie zur Theokratie müsse man behutsam gehen. Deutlich stellt Ghannouchi in den Gesprächen heraus, dass er in den Laizisten seinen politischen Feind sieht.

Die Videos haben einige heftige Reaktionen ausgelöst. 75 Abgeordnete der verfassungsgebenden Versammlung forderten die Auflösung der Partei. Die Medien waren voll von Kommentaren über die Demaskierung Ghannouchis.

Während manche, was in Tunesien nicht untypisch ist, hinter der Veröffentlichung eine Intrige sehen, die möglicherweise vom Netzwerk des Ancien Regimes, von Ben Ali-treuen Gefährten gesponnen wurde, legt ein Kommentator des Portals Nawaat den Finger auf den heiklen Punkt. Man müsse nicht so erstaunt sein darüber tun, dass Islamisten islamistische Ziele verfolgen. Das Vorhaben, die Masse mit demokratischen Mitteln vom richtigen Weg zu überzeugen, mit Massenmedien, Schulen, Versammlungen, Gründung von Vereinen etc. sei ja keine neue Strategie und immerhin friedlich.

Grund zur Beunruhigung gibt es allerdings schon und zwar gehörig, führt der Kommentator aus. Denn aus den Worten Gannouchis gehe deutlich hervor, dass er von der Kraft der Verfassung wenig überzeugt sei. Denn Ghannouchi kläre an einem Punkt seine Gesprächspartner über das Verhältnis der Wirkmächtigkeit von Verfassung und Straße auf und lasse dabei sehr deutlich erkennen, wie wenig ihm die Verfassung bedeute. Schon zu Ben Alis Zeiten sei der Islam die Staatsrelgion gewesen, was den Autokraten wie dessen Vorgänger aber nicht abgehalten habe, den Islam zu ignorieren oder zu bekämpfen, führt Ghannouchi aus.

Daraus folge, dass der Verfassungstext nur wenig Macht repräsentiere. Wichtiger seien die Gewohnheiten, Sitten und die Forderungen der Straße. Und die wolle man möglichst leise und Zug um Zug erobern. So leise zum Beispiel, dass niemandem groß auffällt, wenn religiöse Gewalttäter ohne Strafe davonkommen.