Wir kommen, Kalifornien!

Vom Silicon Valley zur Silicon Alley

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ich war mir nicht sicher, ob die Masse an Cocktail schlürfenden Internet-Geschäftsleuten ihre Siege feierten oder nur versuchten, dies so erscheinen zu lassen. Ich bin in Silicon Alley 99 hineingestolpert, New Yorks wichtigster E-Commerce-Konferenz, die dieses Jahr, ihrem zweiten, zu einer fast tausendköpfigen Show herangewachsen ist. Für alle war deutlich zu erkennen, daß die gewaltigen finanziellen Ressourcen und Wertpapiermärkte von New York erfolgreich Silicon Valley erobert, die Rolle der Westküste als Epizentrum der interaktiven Technologie übernommen und aus den in die Hunderte oder sogar in die Tausende gehenden ersten Investoren Millionäre gemacht haben.

Doch wieviele Armani-Anzüge und Prada-Kleider auch die protzigen Sushi-Bars in diesem kolossalen Loft bevölkerten, so konnte ich doch eine Atmosphäre der Unzufriedenheit bemerken. Die Manager der riesigen Aktienfonds schienen ziellos umherzustreifen und fast jedem vage Fragen zu stellen, als ob sie herausbekommen wollten, welche neue Firma als nächstes von Lycos gekauft wird, bevor Lycos von (AT)home gekauft und (AT)home von AT&T übernommen wird.

Sechsundzwanzigjährige von so weit entfernten Orten wie Toronto und Milwaukee lächelten ernst und gaben jedem die Hand, der sie ihnen auch gab - gleichermaßen voller Begeisterung, dabei zu sein, und voller Angst, daß sie bereits zu spät dran sein könnten. Und das sind sie auch in einem gewissen Sinn. Der Internetboom, wie wir ihn erfahren haben, ist vorbei. Das bedeutet natürlich keineswegs, daß es bereits irgendwo schon sein volles Potential erreicht hat oder daß man nicht weiterhin Tonnen an Geld mit ihm machen kann. Aber so sicher wie die Investmentfirmen New Yorks ihre Aufmerksamkeit von den Computer- und Geräteherstellern des Silicon Valley auf Medienunternehmen, erfolgreiche Netzwerke und Werbeagenturen der Silicon Alley verlagert haben, so wird ein neuer industrieller Sprung das Scheinwerferlicht von New York auf einen anderen Ort lenken.

Wohin wird es gehen? Am wahrscheinlichsten nach Hollywood. Man vergegenwärtige sich kurz, wie sich die TV-Industrie in diesem Jahrhundert entwickelt hat. Als die ersten Fernsehgeräte erfunden wurden, investierten Spekulanten der Wall Street in RCA und andere Unternehmen, die Fernseher und ihre Bestandteile herstellten. Das war ein ganz logischer Schritt, weil Fernsehgeräte schließlich dasjenige waren, was offensichtlich alle Mitglieder der TV-Gesellschaft gemeinsam hatten. Doch als dann immer mehr Fernsehgeräte und Hersteller entstanden, fielen die Preise für die Bildröhren und die anderen Teile zusammen mit den Aktienkursen der Firmen, die sie herstellten (klingt das vertraut?).

Überdies hatten kluge Anleger bereits in CBS, NBC und Dutzende von anderen neuen Sendern investiert, die sich im ganzen Land bildeten. Die Wall Street dachte, daß sie jetzt das Geld in der TV-Kultur machen werden, da sie das Signal übertragen. Doch die meisten der Sender machten Pleite. Übriggeblieben sind in den USA bis vor kurzem nur drei Kabelnetze. Mehr Geld wurde investiert und verloren.

Wohin ging das Geld danach? In die Inhalte, wo es bis heute steckt. Die Menschen, die am meisten beim Fernsehen verdienen, sind nicht die Gerätehersteller oder die Sender, sondern die Produzenten, Schauspieler und manchmal die Autoren, von denen die Sendungen stammen, aber auch die Studios, die sie produzieren. Auch das Internet folgt dieser dreistufigen Evolution, und ich wette, daß die klügsten Investoren bereits ihre Anlagen umdisponiert haben, um sich dieser notwendigen Entwicklung anzupassen.

Der gemeinsame Aufstieg des Silicon Valley mit Compaq, Dell und Microsoft gleicht der RCA-Epoche. Nachdem Mikrochips billiger und Software relativ austauschbar wurden, verlagerte sich die Aufmerksamkeit auf die Netzwerke wie in der CBS-Epoche. Seit dem letzten Jahr konnten wir sehen, daß die Aktien von Lycos und Yahoo bis zu Amazon und AOL den Platz der Computerhersteller als den Lieblingen der Wahl Street eingenommen haben.

Machen diese Internetprovider und "Portale" tatsächlich etwas? Nicht wirklich. Sie liefern wie die TV-Kabelnetzwerke den wirklichen und virtuellen Inhalt von anderen (selbst der E-Commerce ist die Angelegenheit von Mittelsmännern).

Wenn schließlich die Portale und die Internetprovider gedeihen und dabei die Wettbewerbsvorteile verlieren, die sie untereinander haben, werden die Menschen, die die Inhalte produzieren, die Gewinner sein. Jerry Seinfeld konnte jedes Gehalt fordern, weil er als der Star seines Sitcom unersetzlich war. Kann das Yahoo wirklich von seinem Web-Portal sagen, so schön es auch sein mag?

Wenn ich gebeten werden würde, einem Schulabgänger zu raten. was er machen soll, um online Geld zu verdienen, dann würde ich ihm sagen, er soll in seine eigene Garage gehen und eine digitale Unterhaltungsfirma aufziehen. Man muß sich nur ausdenken, welche Online-Inhalte und -Aktivitäten den Menschen so gut gefallen würden, daß sie dafür keinen Ersatz akzeptieren würden. Dazu muß man nicht die besten, fremdartigsten oder neuesten Techniken oder Spezialeffekte einsetzen, denn irgendjemand kann eine Technik oder einen Gag immer nachmachen. Aber man muß Ideen, eine Weltsicht, Charaktere oder Einsichten entwickeln, die einzigartig sind. Einige, allerdings sehr wenige, haben sich bereits auf diesen Weg begeben. Ain't it cool ist eine Website mit Filmbesprechungen, Informationen und einer Sensibilität, wie man sie woanders nicht findet. Den einfachen, aber einzigartigen Comic Strip gibt es nur online - und er erhält monatlich über 4 Millionen Page Views.

Selbst reine Textangebote wie Nerve, Drudge Report oder TV Ultra bieten Meinungen an, die man anderswo nicht findet oder die nicht leicht nachzuahmen sind. Der Wettbewerbsvorteil ist eingebaut. Und das ist nur der Anfang.

Die immanente Schwerfälligkeit der Online-Unterhaltung im Web wird bald der Vergangenheit angehören. Kabelnetzwerke und Telekoms konkurrieren miteinander, um uns einen breitbandigen, ultraschnellen und interaktiven Zugang mit immersiven Spielen, sozialen Räumen und Unterhaltungsangeboten zu eröffnen, die von einer neuen Generation der Contententwickler erkundet werden.

Aber man sollte sich nicht täuschen lassen und denken, daß das Geld bei den Firmen hängen bleibt, die die beste Set-top Box herstellen oder die die Kabel verlegt. Wie immer wird es letztendlich zu den Menschen kommen, die Erfahrungsmöglichkeiten schaffen, für die es keinen Ersatz gibt.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer

Copyright 1999 by Douglas Rushkoff
Distributed by The New York Times Special Features