"Wir sind keine Konkubine der EU"

Während alle darüber spekulieren, ob die Türkei der EU zugemutet werden kann, ist kaum die Rede davon, was die EU der Türkei zumutet

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"Türkei darf EU-Mitglied werden", meldete die Bildzeitung am Samstag auf der ersten Seite. Wie so oft lag das Boulevardblatt wieder einmal scharf neben der Realität. Denn über eine EU-Mitgliedschaft wurde in den letzten Tagen in den EU-Gremien in Brüssel überhaupt nicht geredet. Es ging lediglich um die Aufnahme von Gesprächen, die eine solche Aufnahme zum Ziel haben sollen. Beschlossen wurde, dass die Verhandlungen am 3. 10. 2005 beginnen sollen.

Doch um solche Feinheiten kümmert sich die Boulevardredaktion in der Regel nicht. Viel wichtiger war das Verb "darf" in dem Satz. Die Türkei ist der Bittsteller vor der Tür der EU. Die aber entscheidet über die Bedingungen, unter denen sie Zutritt gewährt - oder auch nur Hoffnung darauf. Dass Bild da den richtigen Ton getroffen hat, zeigte ein Statement des schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson. "Die Türkei muss entscheiden, ob sie EU-Mitglied werden will. Wir können sie einladen, aber wir knüpfen das an einige Bedingungen."

Ministerpräsident Erdogan und Außenminister Gül in Brüssel. Foto:

Vielen türkischen Menschen in Westeuropa werden diese Töne vertraut vorkommen. Auch sie mussten sich entscheiden, ob sie im EU-Raum leben und arbeiten wollten. Doch die Europäer haben daran Bedingungen geknüpft, die im Laufe der Jahre variierten. Zur Zeit werden sie gewöhnlich unter dem Begriff Leitkultur verhandelt.

Die Debatte über die Anbahnung von Gesprächen zur Aufnahme der EU ist im Grunde die Neuauflage einer Leitkulturdebatte. Kann sich die EU die Türkei überhaupt leisten, lautet der Tenor. Selbst in Medien, die diese Frage bejahen, werden die Bedingungen gleich hinterher präsentiert. So gab die grünennahe Tageszeitung, die in den letzten Wochen eine Kampagne für eine EU-Annäherung der Türkei führte, kürzlich den türkischen Ministerpräsidenten noch mal Nachhilfeunterricht:

Selbst ein Ministerpräsident Erdogan hatte noch im September gezeigt, wie wenig er bisher vom System der EU verstanden hat. Als der damalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen auf eine Reform des veralteten Ehebruchsparagraphen drängte, verbat sich Erdogan jede Einmischung in die Souveränität des Landes. Genau dies jedoch ist ein Grundprinzip der Europäischen Union: der Verzicht auf nationale Souveränität.

Solche Töne werden in der Türkei nicht gerne gehört. "Wir haben Respekt vor der EU, doch wir sind nicht deren Konkubine", erklärte der Vorsitzende der kemalistisch-sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP und brachte damit die Stimmung in weiten Teilen der türkischen Bevölkerung gut auf den Punkt. Das bisherige Verhältnis der Türkei zur EU wird in diesen Kreisen kritisch gesehen. Ein Kolumnist der einflussreichen kemalistischen Tageszeitung Cumhurriye bezeichnete es als "Kolonialstatus" und verglich es mit den Verträgen, die Großbritannien im 19. Jahrhundert mit Indien schloss. Erinnert wird auch daran, dass die 1996 in Kraft getretene Zollunion zwischen der EU und der Türkei dafür sorgt, dass die türkischen Außenhandelsbeziehungen ohne Mitspracherecht der Türkei in Brüssel diktiert werden.

Die gegenwärtig islamistisch-konservative Regierung wird in diesen Kreisen, zu denen auch ein Großteil der Militärs zählt, mit Misstrauen betrachtet. Sie sehen zu, ob Erdogan mit seiner EU-Annäherung scheitert, um politisch daraus Kapital zu schlagen. Jedes Hindernis bei den EU-Verhandlungen in den kommenden Jahren stellt daher den Machtanspruch von Erdogan und seiner islamischen CDU in Frage.

Schon daher musste er sich in letzter Zeit immer wieder einmal mit EU-kritischen Äußerungen dem Verdacht erwehren, die "türkischen Interessen" in Brüssel nicht ausreichend zu vertreten. So betonte er mehrmals, dass die Türkei niemals akzeptieren werde, ein EU-Mitglied zweiter Klasse zu sein. Auch seine harte Haltung bei der Zypern-Frage in den letzten Tagen in Brüssel ist vor allem innenpolitisch motiviert. Erdogan lehnte es kategorisch ab, ein Zollabkommen mit der Republik Zypern sofort zu ratifizieren, was einer De-facto- Anerkennung gleichgekommen wäre. Das ist in der Türkei schon deshalb schwer zu vermitteln, weil die türkische Bevölkerung in Zypern in einem Referendum im letzten Frühjahr einer von der UN unterstützte Kompromissregelung zugestimmt hatte, die einen Beitritt beider Teile Zyperns in die EU ermöglicht hätte. Der Plan scheiterte an dem ablehnenden Votum des griechisch dominierten Inselteils. Doch der wurde trotzdem in die EU aufgenommen und könnte jetzt theoretisch eine Aufnahme der Türkei mit einem Veto verhindern.

Gerade die Kemalisten haben von ihrem Partei- und Staatsgründer die grundsätzlich positive Bezugnahme auf den Westen gepaart mit einer Betonung einer starken souveränen Türkei übernommen. Sie streben eine Aufnahme in die EU aus wirtschaftlichen Gründen an, wollen aber möglichst viel von der staatlichen Souveränität behalten. In diesen Kreisen gibt es manchmal schon ins Verschwörungstheoretische changierende Ängste vor einer Schwächung oder gar Zersplitterung der Türkei durch den Westen.

Diese Befürchtungen werden noch verstärkt, wenn ein Großteil der kurdischen Nationalbewegung zur Zeit zu den stärksten Befürwortern eines EU-Beitritts zählen. Sie erhoffen sich dadurch eine Verbesserung der Menschenrechtssituation und eine stärkere Berücksichtigung ihrer Minderheitenrechte. Mit der Verhaftung des Vorsitzenden der kurdischen PKK Abdullah Öcalan verschwand die Option, durch bewaffneten Kampf, kombiniert mit einen Massenwiderstand der Bevölkerung, dem türkischen Staat Zugeständnisse abzutrotzen. Die Hinwendung zur EU ist daher aus der Not geboren. Dabei ist den vor 10 Jahren noch streng marxistisch-leninistisch argumentierenden kurdischen Aktivisten klar, dass die EU alles vermeiden wird, was wie eine offene Parteinahme für ihre Interessen ausgelegt werden könnte. Doch allein schon der Umstand, dass gegen Öcalan nicht die Todesstrafe vollstreckt wurde, wird schon dem Einfluss der EU zugeschrieben. Auch die Verfassungsänderungen der letzten Monate, die zumindest auf dem Papier einige Relikte aus der Zeit der Militärdiktatur EU-konform veränderten, werden als erster Schritt betrachtet.

Die kurdische Nationalbewegung hat sich am Vorabend der Entscheidung über Aufnahme von Verhandlungen noch einmal in der Türkei und in Westeuropa zu Wort gemeldet. Führende kurdische Intellektuelle haben in Zeitungsanzeigen in mehreren europäischen Ländern beschrieben, was die Kurden von der EU erwarten. Bei Massendemonstrationen in den kurdischen Gebieten der Türkei wurden diese Forderungen zudem lautstark vertreten. In der heimlichen Kurdenhauptstadt Dyabakir kam es zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Von solchen Szenen profitieren könnten wiederum die türkischen Ultrarechten, die in Gestalt der MHP, besser bekannt als Graue Wölfe, noch Teil der letzten Regierung waren. Nach den letzten Jahren schafften sie nicht mehr den Sprung über die 10%- Hürde. In ihrer Propaganda werden die Kurden als Werkzeuge der EU dämonisiert, die der Türkei die staatliche Souveränität nehmen will. Wenn sich die EU-Verhandlungen hinziehen und weitere Forderungen aus Brüssel kommen, könnten sie Zulauf bekommen. Schwieriger haben es die linken Gruppen, die die EU als imperialistisches Gebilde ablehnen. Auch sie haben sich in den letzten Tagen in Istanbul mit Demonstrationen zu Wort gemeldet, sind aber zur Zeit zersplittert.