Wir stehen vor der zweiten Neuordnung Europas
- Wir stehen vor der zweiten Neuordnung Europas
- Rückblick auf Afghanistan und eine aufschlussreiche Erklärung
- Putin hat mit dem Angriff auf die Ukraine den Einsatz erhöht
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Was der Krieg in der Ukraine mit verpassten politischen Chancen zu tun hat – und warum die Debatte um ihn nicht geschichtsvergessen geführt werden sollte
Diese radikale Wende der russischen Politik hatte wohl kaum jemand erwartet. Nur die US-Geheimdienste haben seit langem davor gewarnt, aber sie waren in unseren Augen durch ihre historischen Lügen – März 2003 vor dem Angriff auf Bagdad – zu sehr diskreditiert, als dass man ihnen hätte glauben können.
Doch das, was den Nato-Staaten vorzuwerfen ist, dass sie die Sicherheitswünsche der Russen nicht beachtet, sondern zurückgewiesen haben, trifft auch diejenigen, die immer wieder an die Kraft der Diplomatie und die Flexibilität beider Seiten geglaubt haben. Auch sie haben den Ernst und die Dringlichkeit der Sicherheitsfrage sowie den Eskalationswillen der Nato-Staaten unterschätzt.
Nun ist Krieg, und das ist ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht, auf das sich auch die russische Regierung immer berufen hat. Putin muss alle Kampfhandlungen umgehend einstellen, und die Nato-Regierungen müssen sich fragen, warum sie die Konfrontation mit Russland so weit vorangetrieben haben. War diese Katastrophe nicht vorherzusehen?
Doch die Politik erschöpft sich im Ausdenken der gemeinsten Sanktionen, die Russland am heftigsten weh tun. Man erfreut sich am Wiederaufleben der bereits totgesagten Nato. Zudem werden die alten Legenden von der Wiedererrichtung des alten russischen Großreichs und Rückkehr zur alten Größe des Zarenreichs aufgewärmt. Über die eigenen Fehler, die eigenen Provokationen und Aggressionen, die Putin in die Ecke getrieben haben, redet keiner.
So begründet die EU Sanktionen gegen russische Politiker und Journalisten (23 Bilder)
Man glaubt, jetzt haben wir "Putin im Sack". Doch könnte man sich auch fragen, ob die Nato Putin nicht vielleicht gezielt in diese Ecke getrieben hat, aus der er nur mit Gewalt wieder herauskommen konnte. Es werden wohl noch Jahrzehnte vergehen, bis wir darüber Aufschluss erhalten.
Es gab schon vorher Zeichen, dass in den Kreisen der Nato die Überzeugung herrschte, dass eine militärische Auseinandersetzung mit Russland unvermeidbar sei. Man sah in Russland nie einen möglichen Partner, mit dem es eine friedliche Konkurrenz geben könne. Man sah immer nur die Bedrohung.
So schloss der Generalstabschef der britischen Armee, General Sir Nicholas Carter, seine Beschreibung der Bedrohung des Westens durch Russland, anlässlich seiner Rede am 22. Januar 2018 vor dem Royal United Services Institute (Rusi) mit diesen Worten von Leon Trotzki: "Du bist vielleicht nicht am Krieg interessiert, aber der Krieg ist an Dir interessiert."
Er schilderte ausführlich die Notwendigkeit, sich auf die Bedrohungen durch Russland vorzubereiten, darauf, "den Krieg zu führen, den wir vielleicht führen müssen". Jetzt müsse reagiert werden, denn "sie stellen eine klare und gegenwärtige Gefahr dar (...) Wir haben vielleicht keine Wahl hinsichtlich eines Konflikts mit Russland", so das Fazit Carters.
Ein Blick weiter in die Geschichte der Ost-West-Konfrontation zurück, legt zudem den Verdacht nahe, hier wiederholte sich eine Strategie, die schon einmal zum Ziel geführt hatte. 1998 plauderte Zbigniew Brzeziński in der französischen Zeitung Nouvel Observateur über die US-amerikanische Strategie, mit der sie die Sowjetregierung 1979 in die afghanische Falle gelockt hatten.