"Wir wissen nichts, wir wissen nicht mal, ob die Wahlen stattfinden"

Bild: Jens Mattern

Polens Präsidentschaftswahlen - die große Unsicherheit

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Vor dem Postamt in Warschaus Süden waren einige Personen mit OP-Masken geduldig; hinein darf nur, wenn der Schalter frei wird. "Nein, wir sind nicht auf die Wahlen vorbereitet", meint die Postangestellte mit schwarzer Textilmaske. "Wir wissen nichts, wir wissen nicht mal, ob die Wahlen stattfinden." Der Präsident trete zurück, so eine Kollegin am Schalter nebenan, das habe sie auf Facebook gelesen. "Nein, wir wissen nichts", wiederholt die Postangestellte energisch, um die Diskussion abzuschließen.

Sicher scheint nur die Unsicherheit: Eigentlich soll am 10. Mai in Polen das Amt des Staatspräsidenten gewählt werden - für 30 Millionen Wahlberechtigte mittels obligatorischer Briefwahl. Dies will die Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) und vor allem will dies deren Gründer und Chef Jaroslaw Kaczynski. Würde der postalische Urnengang am kommenden Sonntag steigen, bekäme der derzeitige Amtsinhaber und PiS-Kandidat Andrzej Duda nach aktuellen Umfragen 63 oder 40 Prozent. Auch hier schwankt es, in der Stimmung der Bevölkerung oder im Umfragesystem.

Doch die Chancen stehen gut, dass Duda im zweiten Wahlgang das Rennen macht. Wenn sich auch nur jeder dritte polnische Wahlberechtigte bereit erklärt, an den Briefwahlen teilzunehmen. Kaczynski, der ihn Ende 2014 selbst aufgestellt hatte, könnte dann seinen Umbau der polnischen Justiz und andere autoritäre Maßnahmen weiter führen, ohne ein Veto eines oppositionellen Staatsoberhaupts zu fürchten.

Doch es gibt Gegenstimmen zu der Wahl - die polnische Wahlkommission hält die Modalitäten für nicht verfassungskonform, ein Teil der Opposition ruft zum Wahlboykott auf, darunter auch der ehemalige Premier Donald Tusk aus dem fernen Brüssel. Aber auch der Juniorpartner der PiS, die Partei "Verständigung", hält die in Eile anberaumte Briefwahl aufgrund der Pandemie für unverantwortlich, was bereits Ende März eine Regierungskrise auslöste, worauf deren Parteichef Jaroslaw Gowin als stellvertretender Parteivorsitzender zurücktreten musste. Das Briefwahlgesetz wurde dann doch im Sejm beschlossen.

Bei dieser Prozedur müssen die Wahlberechtigen einen Wahlschein unterschreiben, den ihnen der Briefträger überbringt. Das führt zu einer größeren Infektionsgefahr, was die Gewerkschaft der Post beunruhigt. Doch der Chef der polnischen Post wurde bereits Mitte April durch einen Staatsekretär aus dem Verteidigungsministerium ersetzt, der kompromisslos auf Parteilinie agiert.

Da viele Polen nicht bei ihrer gemeldeten Adresse wohnen, werden diese von den Wahlen ausgeschlossen, wie die Auslandspolen. Kritiker verweisen auch daraufhin, dass die Regierung unter Mateusz Morawiecki durch diese Art von Briefwahl in der Lage sein könnte zu kontrollieren, wer sie gewählt hatte und wer nicht. Laut Verfassung kann der erste Wahlgang am 17. Mai oder 23. Mai stattfinden.

Die Opposition gibt kein überzeugendes Bild ab

Malgorzata Kidawa-Blonska vom Bündnis "Bürgerliche Koalition" (KO), in der die vorige Regierungspartei "Bürgerplattform" enthalten ist, zauderte mehrfach herum, ob sie an den Wahlen teilnehmen soll. Sie will nun im Mai nicht teilnehmen und fordert die Bevölkerung dazu auf, die Briefwahlen ebenso zu boykottieren.

Gerade mal zwei Prozent der Polen sehen sie aktuell als mögliche Präsidentin. Die besten Chancen hat derzeit der liberal-katholische Journalist und Ex-Dominikanermönch Szymon Holownia, welcher bezeichnenderweise bislang noch kein politisches Amt bekleidet hat.

Doch die Opposition könnte zusammen mit den Rebellen um Gowin das Gesetz zur Briefwahl im Sejm am 7. Mai verhindern, sollte der Senat, dies gilt als wahrscheinlich, dagegen stimmen und eine erneute Stimmenabgabe im Unterhaus von Nöten sein. Absprachen zwischen Gowin und Oppositionspolitikern zielen darauf ab. Gleichzeitig sollen die 18 Abgeordneten der "Verständigung" wie auch einzelne Mitglieder der Opposition mittels "Zuckerbrot und Peitsche" von Seiten der PiS dazu gebracht werden, das Briefwahlgesetz am Donnerstag abzusegnen, um die Wahlen im Mai doch noch steigen zu lassen.

Jaroslaw Kaczynski gilt als begnadeter Stratege und Kenner von kompromittierenden Fakten von Freund und Feind. Der Boulevardzeitung "Fakty" zeigte er im vergangen Jahr eine Kammer nur mit Akten, in denen er Wichtiges über einen unbekannten Personenkreis gesammelt hat.

Sollte die PiS jedoch eine Schlappe erleiden, so können mittels des Ausnahmegesetzes, das die Medienfreiheit stark einschränkt, die Wahlen auf den August verlegt werden. Der PiS-Parteichef drohte auch gleichzeitige Neuwahlen für das Parlament an, wodurch die Partei "Verständigung", die nicht mehr auf die Wahlliste der "Vereinigten Rechten" käme, kaum Chancen für den Parlamentseinzug hätte. Jaroslaw Kaczynski gilt seinen Anhängern als "genialer Stratege", der seit dem Wahlerfolg der PiS 2015 die Rechtslage so auslegt beziehungsweise so verändert, dass er seine Formation zumeist zum Sieg führt. Und wäre Wille eine Ressource, so wäre sie in Polens Politlandschaft ungleich verteilt - der siebzigjährige Doktor der Rechte hat fast alles davon, der Rest kaum etwas.

Der entschlossene Kaczynski drängt zur Eile - denn mit rund 14.000 Infizierten und 700 Toten steht Polen, das Anfang März eine radikale Abriegelung beschlossen hatte, noch relativ gut da, die Regierung konnte sich als Krisenmanager darstellen. Doch die wirtschaftlichen Folgen werden zunehmend spürbar. Offiziell liegen die Arbeitslosenzahlen aktuell bei 5,5 Prozent, bis zum Jahresende könnten sie auf zehn Prozent ansteigen - dies sind die Angaben des Entwicklungsministeriums. Problematisch bei der Arbeitslosigkeit in Polen ist, dass allein zwanzig Prozent der Betroffenen die Kriterien für die Stütze erfüllen.

Unklar ist jedoch, was nach der Wahl passiert, sollte sie im Mai stattfinden, mit Duda als voraussichtlichem Sieger. Denn nach Rechtsexperten verstößt sie gegen das Gleichheitsprinzip, die Unmittelbarkeit des Wahlvorgangs und das Wahlgeheimnis. Dabei ist entscheidend, wer dann Andrzej Duda als erneut gewähltes Staatsoberhaupt nicht anerkennt. Sollte dies allein die Opposition sein, so kann Kaczynski noch drei weitere Jahre die Justiz und andere Institutionen nach seinem Gutdünken umformen. Sollten sich viele Amtsträger quer stellen, so droht eine Staatskrise.