Wird Westbindung durch Trump zum Unwort des Jahres?
Für viele Grüne und Liberale war Westbindung bisher ein Muss – und der Wahlsieg des autoritären Republikaners undenkbar. Auch das ist Chauvinismus. Ein Kommentar.
Was wurden in Parteien links und rechts von der Mitte noch vor wenigen Wochen in Deutschland beschimpft, weil sie die Westbindung in Frage zu stellen wagten?
Westbindung und Nato-Mitgliedschaft wurden mit einer bombenfesten Demokratieversicherung gleichgesetzt – und das nicht nur von Friedrich Merz, Roderich Kiesewetter und ähnlichen Recken der CDU-Stahlhelm-Fraktion oder der FDP-"Eurofighterin" Marie-Agnes Strack-Zimmermann, deren Parteichef auch mit Donald Trump klarkommt.
Westbindung und falsche Gewissheiten vor dem Trump-Schock
Im Chor der Westbindung sangen auch sehr engagiert Grüne und Liberale, die jetzt entsetzt über das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahl sind. Als sei der Wahlsieg eines autoritären, rassistischen Chauvis in einer führenden westlichen Demokratie völlig undenkbar gewesen.
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Einmal konnten zivilisierte, westliche Menschen des 21. Jahrhunderts diesen Fehler ja machen, aber ein zweites Mal? – Das konnte sich ein Anton Hofreiter wohl einfach nicht vorstellen, als er vor wenigen Wochen seine Grünen als "vernünftige Partei" anpries, die "klar zur Westbindung" stehe.
Transatlantischer Liebesentzug nach Trump-Sieg
Auch Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz, der im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestag sitzt, hat stets die Fahne der Westbindung hochgehalten, als ostdeutsche CDU-Politiker angesichts der Wahlergebnisse auch nur scheinbar Gefahr liefen, abtrünnig zu werden.
Nach dem Erdrutschsieg Donald Trumps in den USA scheinen solche Äußerungen aus einer anderen Welt zu stammen – so sehr hatten deren Urheber auf die Wahl der Gegenkandidatin Kamala Harris gesetzt. Stattdessen wird nun zum zweiten Mal Trump an der Spitze der führenden Nato-Atommacht stehen.
Deutschland und Europa ohne großen Bruder
"Wir sind auf offenem Wasser", kommentierte von Notz an diesem denkwürdigen Mittwoch die Lage. "Der Ausgang der Wahl in den USA nimmt uns jeden Spielraum fürs Lamentieren, Populismus und Zögerlichkeit. Deutschland und Europa müssen sich entschlossen, konsequent und vor allem schnell durchsortieren und neu und selbstständig aufstellen", schrieb er auf der Plattform X, die der US-Milliardär und Trump-Unterstützer Elon Musk im Herbst 2022 gekauft hat.
So schnell können Waffenarsenale, deren Ausbau nominelle und gefühlte Demokraten forciert haben, in die Hände von Ultrarechten fallen – weil die Mehrheit es anscheinend so will oder nicht in der Lage ist, an der Wahlurne über den sprichwörtlichen Denkzettel hinaus zu denken. Diese Möglichkeit besteht in jeder bürgerlichen Demokratie.
Westbindung: Die Hölle sind immer die anderen
Daraus könnte jetzt die Lehre gezogen werden, dass die Hölle nicht immer nur die anderen sind. Westliche und westlich sozialisierte Menschen wählen nicht rechts, weil sie "Putins fünfte Kolonne" sind und von fremden Mächten manipuliert wurden. Sie wählen rechts, weil sie "ihren" Wirtschaftsstandort ohne Rücksicht auf ärmere Länder, Minderheiten und die Natur verteidigen wollen.
Das ist nicht besonders vorausschauend, aber kurz- und mittelfristig, mit der nötigen Portion Verdrängung, scheint es für viele Menschen im Westen zumindest attraktiver zu sein als die durchsichtige Illusion vom "grünen Kapitalismus", der zwar in den Metropolen Diversity großschreibt und Rassismus verurteilt, aber global gesehen eben doch keine guten Chancen für die Mehrheit der nichtweißen Menschen vorsieht.
Denn diese Mehrheit kommt größtenteils gar nicht in die Metropolen und würde dort niemals auch nur die gleichen Rechte erlangen wie einheimische Arbeiter, die am Monatsende jeden Cent dreimal umdrehen müssen, aber beim Jobverlust im schlimmsten Fall "nur" aus ihren Wohnungen und nicht aus dem Land geworfen werden können, in dem sie zumindest noch eine Suppenküche finden.
Das Ende der Western Supremacy
Diesen strukturellen Rassismus verdrängen auch besserverdienende Grüne, die sich einem Trump moralisch haushoch überlegen fühlen können. Sie wollen weiterhin glauben, dass die Hölle die anderen sind – fremde Mächte wie Russland und China, denen man aus ihrer Sicht mit Panzern und Raketen Paroli bieten kann. Notfalls eben auch ohne die USA. Die deutschen Rüstungskonzerne wird es freuen.
Aber zu glauben, das eigene Land oder der eigene Kontinent sei politisch und moralisch so viel höher entwickelt, dass diese Waffen hier nicht ganz demokratisch und ohne die Waffengewalt fremder Mächte in die Hände von Antidemokraten kommen könnten, ist pure Arroganz und Chauvnismus. Diese moralische "Western Supremacy" können sich Liberale jetzt endgültig abschminken.