Wirtschaftskrieg in Evian

Aus ganz Europa reisen Globalisierungskritiker an diesem Wochenende in das französische Evian, um gegen die G-8 zu protestieren, George Bush demonstriert geringes Interesse

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Die ersten kamen per Zug aus Deutschland. Bereits am Mittwoch Abend startete in Berlin die Sonderfahrt des Attac-Netzwerks in Richtung Evian, einem Bergstädtchen an der Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich. Hier werden ab Sonntag Staats- und Regierungschefs der sieben größten Industrienationen und Russland zu ihren jährlichen Beratungen zusammentreffen. Während der Kurort für das Treffen herausgeputzt wurde und sich Polizisten und Soldaten auf die kommenden Tage einrichteten, sammelte der Attac-Zug in rund zehn Städten Globalisierungskritiker ein. In Genf waren es dann 1000 meist Jugendliche, die per Bus weiter in das "Intergalaktische Camp" nahe Evian fuhren. Bislang lief alles wie geplant. Bei den Demonstranten, bei den Ausrichtern des Gipfels, bei den Sicherheitskräften. Es ist ein altbekanntes Ritual, das von allen Beteiligten oft geübt wurde.

Auch wenn die Stimmung in Zug und Camp ausgelassen war, bereiten sich die Kritiker der G-8 auf harte Auseinandersetzungen vor. Allzu präsent sind noch die Erinnerungen an den Gipfel im italienischen Genua vor zwei Jahren (Folter in Genua?). Damals wurde der 23-jährige Demonstrant Carlo Giuliani erschossen. Erst Anfang dieses Monats wurde das Verfahren eingestellt (Wer erschoss Carlo Giuliani?). Nach Meinung des verantwortlichen Richters hatte der Beamte in Notwehr gehandelt. Bei dem Todesschützen handelte es sich um einen 21-jährigen Hilfs-Militärpolizisten.

Auch deswegen macht den Organisatoren des Protestes in Evian die Mobilisierung von 5600 Schweizer Soldaten Sorgen. Hinter der Entscheidung steht vor allem der Druck der Kantone, denn während sie den Polizeieinsatz bezahlen müssen, kommt für den Einsatz des Heeres der Bund auf. Nico Lutz, Sekretär der Gruppe Schweiz ohne Armee hält es jedoch für "fahrlässig, dort Soldaten einzusetzen", denn sie seien militärisch und nicht polizeilich ausgebildet. Eine Überreaktion, wie sie vermutlich vor zwei Jahren Carlo Giuliani das Leben gekostet hat, könnte sich wiederholen. Lutz' Gruppe sucht daher den direkten Kontakt zu den Rekruten. An Bahnhöfen verteilen die Aktivisten Flugblätter mit der Aufforderung an die einrückenden Soldaten, sich dem Einsatz gegen die Globalisierungskritiker zu verweigern.

Die Furcht vor einer Eskalation ist nicht aus der Luft gegriffen. Seit das Treffen der führenden Industrienationen 1975 aus der Taufe gehoben wurde, kam es regelmäßig zu Übergriffen gegen Demonstranten. So hielt die bayrische Polizei auf dem G-7-Gipfel 1992 in München mehr als hundert Menschen über Stunden hinweg im "Münchner Kessel" fest. Zwei Jahre später wurden die Freiheitsberaubten auf Gerichtsbeschluss entschädigt. Eine juristische wie politische Ausnahme.

Während sich das Camp der G-8-Gegner in Evian füllt, sind allein auf französischer Seite der "Konfliktregion" 11000 Sicherheitskräfte aus Polizei und Armee mobilisiert. An Zufahrtsstraßen wurden Kontrollpunkte errichtet. Die französische Richtergewerkschaft "Syndicat de la magistrature" (SM) zeigte sich besorgt über zwei Schnellgerichte, die in Thonon und Saint-Julien eingerichtet wurden. Die juristische Gleichheit der Gipfelteilnehmer und der Demonstranten sei dadurch gefährdet, beklagte SM-Präsidentin Evelyne Sire-Marin. Gleich mehrere Organisationen entsandten bereits im Vorfeld Beobachter nach Evian. Nicht nur amnesty international ist vertreten, auch Menschenrechts- und Juristenvereinigungen wollen etwaige Übergriffe dokumentieren.

Wenn ab Sonntag die 2000 Gipfelteilnehmer in Evian ankommen, werden drängende wirtschaftliche Themen auf der Tagesordnung stehen. Der Euro-Höhenflug wird die Staats- und Regierungschefs sicher beschäftigen, auch wenn regulierende Maßnahmen wohl nicht ergriffen werden. Alfred Tacke, der Berliner Wirtschaftsstaatssekretär und Verantwortliche der Bundesregierung für den Gipfel, hielt sich an die bekannte Rhetorik. Die EU müsse "endlich notwendige Strukturreformen angehen, um konjunkturell wieder auf die Beine zu kommen". Das ist Munition für die Befürworter von Schröders Agenda 2010.

Alte Streitpunkt werden in Evian aufgegriffen werden. An oberster Stelle steht der Disput um Exportsubventionen für Agrarprodukte. Besonders Washington, dessen Exportindustrie der hohe Kurs des Euro zu Gute kommt, drängt auf einen massiven Abbau der Zuschüsse. Der Streit wird wohl beim G-8-Ministertreffen im September im mexikanischen Cancún fortgeführt werden.

Einer macht sich rar: US-Präsident George W. Bush will in Evian nur eine Zwischenstation einlegen. Während neben US-Beamten ranghohe Vertreter aus Frankreich, Großbritannien, Kanada, Deutschland, Italien, Japan und Russland diskutieren und Zehntausende protestieren, wird Bush am Sonntag schon in das ägyptische Sharm-el-Sheikh weiterreisen.

Äußerst fraglich, ob die Fotografen unter den 3500 akkreditierten Journalisten zu dem ersehnten Foto vom Händedruck zwischen Gerhard Schröder und seinem Amtskollegen jenseits des Atlantik kommen. Der nämlich setzt - das ist nicht zu überschauen - andere Prioritäten. Für Bush geht es nach Ägypten, Jordanien und Katar. Neben strategischen Planungstreffen mit den jeweiligen Staatschefs wird er dem US-Zentralkommando einen Besuch abstatten. Die Botschaft ist deutlich: In Evian wird Wirtschaft debattiert. Was zählt, ist Militär.