Wirtschaftsweise im Clinch mit der Demokratie
Die Wirtschaftsweisen streiten: Mehrheit will mehr Kontrolle durch Expertenräte, Veronika Grimm warnt davor. Was bedeutet der Machtkampf?
Es ist noch nicht allzu lange her, dass Ökonomen und Politiker sich wechselseitig Glauben machten, dass die deutsche Wirtschaft so stark sei, dass ihr nichts und niemand etwas anhaben könne.
Nun aber ist unbestreitbar, dass die „deutsche Volkswirtschaft sich in der Stagnation befindet“ und eine schnelle Erholung nicht in Sicht ist, weil sie nicht nur „von konjunkturellen“, sondern auch „von strukturellen Problemen ausgebremst“ werde, wie im jüngsten Bericht des Sachverständigenrats ausgeführt wird.
Erstaunliche Einigkeit herrscht über alle ökonomischen Schulen und politischen Lager hinweg, dass es vor diesem Hintergrund das Ziel einer vernünftigen Wirtschaftspolitik sein müsse, die deutsche Industrie als „das Rückgrat unseres Wohlstands“ zu erhalten, wie es im Parteiprogramm des Bündnisses Sahra Wagenknecht formuliert wird.
Ob diese Zielsetzung vernünftig und ethisch akzeptabel ist, lässt sich allerdings bezweifeln. Denn dieses „Rückgrat unseres Wohlstands“ verdankt sich nicht primär „Zukunftstechnologien made in Germany“ – wie die Wagenknecht-Partei durchaus mehrheitsfähig behauptet – sondern der Einführung des Euro.
Mit ihm konnte Deutschland mit einer Lohndumping-Strategie auf Kosten Dritter an internationaler preislicher Wettbewerbsfähigkeit gewinnen, weil mit dem Euro trivialerweise keine ansonsten verbundene Aufwertung der D-Mark mehr möglich war.
Es ist diese Tatsache, die den relativ hohen Anteil der Industrieproduktion an der Wertschöpfung und damit einhergehenden auffallend hohen Wachstumsbeitrag des deutschen Exportsektors über Jahrzehnte hinweg erklärt.
Mit der nachholenden industriellen Entwicklung von Schwellenländern – wie insbesondere China – und des seit Trumps erster Amtszeit eingeläuteten und auch von Biden fortgeführten Protektionismus waren die Tage dieses exportorientierten Wachstumsmodells allerdings gezählt.
Mit der werteorientierten Außenhandelspolitik des Westens wurde diesem Wachstumsmodell nun jäh und unwiderruflich der Todesstoß versetzt.
Vernünftig ist eine Wirtschaftspolitik daher nur dann, wenn sie auf einer Akzeptanz der De-Industrialisierung Deutschlands beruht und sie den Übergang zu einer verstärkt dienstleistungsorientierten Wirtschaft politisch unterstützt und damit unweigerlich verbundene soziale Konflikte moderiert.
Dieser Einsicht verschließt man sich in Deutschland aber hartnäckig. Zum Erhalt des deutschen Wachstumsmodells scheint sogar ein Gremium, das bislang als Hort des Wirtschaftsliberalismus gelten durfte, zu „Eingriffen in das Getriebe des Marktes“ bereit, die nach Meinung eines ihrer bedeutendsten Vordenker – Ludwig von Mises – „niemals den Erfolg erzielen könnten, den die Obrigkeit mit ihnen zu erreichen beabsichtigt“.1
Diesen Eindruck mag jedenfalls das Minderheitenvotum der ordoliberalen Veronika Grimm gegen die Reformvorschläge ihrer Kollegen zur „Stärkung zukunftsorientierter öffentlicher Ausgaben“ erwecken.
Denn sie plädiert für einen weiteren Rückzug des Staates bei der Bereitstellung öffentlicher Güter. Weshalb man geneigt sein mag zu schließen, dass jetzt auch wirtschaftsliberale Mainstream-Ökonomen zu der Einsicht gelangt sind, dass der Kapitalismus staatlicher Interventionen in die Wirtschaft bedarf.
Freilich wäre das zu kurz gesprungen. Denn staatliche Interventionen in die Wirtschaft sind nicht per se gut. Es gilt vielmehr im Einzelfall zu prüfen, welche Effekte mit bestimmten Staatsinterventionen in historisch spezifischen institutionellen Kontexten verbunden sind und ob sie sich demokratisch legitimieren lassen.
Unterzieht man die Reformvorschläge der Wirtschaftsweisen einer solchen Prüfung, zeigt sich rasch, dass es der Mehrheit der Wirtschaftsweisen nicht darum geht, die Macht des Marktes, sondern die des Volkes zu begrenzen.
Die Demokratie ist schuld
Im Bericht der Wirtschaftsweisen wird richtig festgehalten, dass die „Bereitstellung öffentlicher Güter zu den Kernaufgaben des Staates gehört“. Als prominentes Beispiel wird die „Bereitstellung der Verkehrsinfrastruktur“ genannt. Mit Blick auf deren Zustand wird konstatiert, dass er „schlecht sei, […] was den Güterverkehr und die Wirtschaftsaktivität zunehmend behindere“.
Erklärt wird dieser missliche Zustand mit der „Gegenwartspräferenz der Politik“: Sie neige dazu, konsumtive Ausgaben für ihre gegenwärtige Wählerschaft zu tätigen und Investitionen, deren Erträge erst „in ferner Zukunft“ anfallen, zu vernachlässigen.
Die Unterversorgung mit öffentlichen Gütern – nicht nur im Verkehrssektor – ist eine unbestreitbare Tatsache. Könnte sich aber auch mit der gefeierten Abkehr von einem als paternalistisch kritisierten Leitbild wohlfahrtsstaatlicher Daseinsvorsorge erklären, das eng mit dem Namen Ernst Forsthoffs verbunden ist.
Forsthoff schließt zwar nicht aus, dass manche öffentlichen Güter auch von gewinnorientierten Unternehmen produziert werden können, war aber überzeugt, dass die Mehrzahl öffentlicher Güter durch eine „öffentliche Verwaltungseinrichtung“ produziert werden muss.
Mit der Demokratie sei dieses Wohlfahrtsstaatskonzept nicht vereinbar. Es bedürfe der Orientierung am „Ideal der Bürgergesellschaft“, bei dessen Formulierung, so der Soziologe Jens Kersten, uns die „Antworten des 19. Jahrhunderts näher als Ernst Forsthoffs Leistungsstaat“2 stünden.
Auf dem politischen Programm stehe daher, so wird an anderer Stelle konsequent geschlossen, „nicht mehr das Maximalangebot, sondern das Mindestangebot an Infrastrukturausstattung und öffentlichen Dienstleistungen“.
Es könnte also sein, dass es nicht die Orientierung der Politik an den Interessen der Wähler, sondern der unter Politiker weitverbreitete Glaube der Überlegenheit der Leistungserbringung durch gewinnorientierte Unternehmen die mangelnde Versorgung mit öffentlichen Gütern erklärt.
Richtig ist allerdings, dass sich viele staatliche Organisationen – wie insbesondere Kommunen – die bedarfsgerechte Produktion öffentlicher Güter nicht mehr leisten konnten und können.
Was allerdings nichts mit der Notwendigkeit der „Absicherung der Schuldentragfähigkeit öffentlicher Haushalte“ zu tun hat, wie die Wirtschaftsweisen behaupten, sondern vielmehr auch auf Schuldenbremsen auf allen möglichen politischen Ebenen zurückzuführen sein dürfte.
Schuldenbremsen mögen nun zwar Schutz vor einem demokratisch nicht legitimierten Deficit Bias von Politikern bieten, wie die Wirtschaftsweisen behaupten. Was aber nichts damit zu tun hat, dass öffentliche Haushalte budgetären Begrenzungen unterworfen wären, die mit denen von Unternehmen und Haushalten vergleichbar sind.
Denn ein Staat kann in seiner eigenen Währung niemals zahlungsunfähig werden, wenn seine Zentralbank zuverlässig als Kreditgeber der letzten Instanz fungiert, weil sie Geld aus dem Nichts produzieren kann.
Das aber heißt, dass Problemen der Finanzierung öffentlicher Ausgaben mit einer Reform der Fiskalordnung zu Leibe gerückt werden kann. Was es allerdings nicht heißt, ist, dass staatliche Ausgaben in beliebiger Höhe unproblematisch wären und der Staat keine Zwangsabgaben mehr erheben müsste.
Wie schon Johann Gottlieb Fichte 1800 richtig erkannt hat, sind „Abgaben in Geld“ unabdingbar, um „um dem Landesgelde die allgemeine Gültigkeit zu versichern“.3
Und während es für Staatsausgaben zwar keine finanziellen Grenzen gibt, setzt die zu jedem Zeitpunkt gegebene real begrenzte Produktionskapazität einer Volkswirtschaft dem Staat eine Ausgabenobergrenze. Haushaltsdefizite, die darauf keine Rücksicht nehmen, können Inflationsraten bewirken, die für die Wirtschaftsentwicklung eines Landes schädlich sind.
Demokratie an die Leine
Die Ratsmehrheit erachtet es als per se vernünftig, „öffentliche Investitionen aus dem von Fiskalregeln zu begrenzenden Defizit herauszurechnen“. Da aber eine zielführende Unterscheidung von „konsumtiven“ und „investiven“ Staatsausgaben „schwierig“ sei, sei es zweifelhaft, dass mit einer solchen Reform der Schuldenbremse dem Anti-Investment-Bias von Politikern entgegengewirkt werden könne.
Sie präferieren daher zur Sicherstellung von Zukunftsinvestitionen die Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben über
- „Sondervermögen“, „die ausschließlich zur Erfüllung einzelner begrenzter Aufgaben des Bundes bestimmt sind und deshalb von dem sonstigen Bundesvermögen getrennt verwaltet werden“. Einer solchen Begrenzung der Kompetenzen gewählter Volksvertreter dienen auch ihre Plädoyers für
- „Kosten-Nutzen-Analysen“ von Gesetzesvorhaben durch „überparteiliche“ Expertenräte und
- eines Outsourcings von Haushaltsrechten an politisch unabhängige Organisationen.
Viktoria Grimm als bekennende Marktfundamentalistin verschreibt dagegen – wenig überraschend – als Rezept gegen die mangelnden Zukunftsinvestitionen „mehr Markt“.
Anders als die Ratsmehrheit ist sie allerdings der Überzeugung, dass mit staatlich gesetzten Anreizen gewinnorientierte Unternehmen öffentliche Güter produzieren zu lassen, „den Staat […] zur Beute von Partikularinteressen“ mache, wie sie an anderer Stelle schreibt.
Grimm sorgt sich daher weniger um eine Orientierung der Politik am Mehrheitswillen, sondern an der von Interessengruppen. So würden (1) „Sondervermögen häufig von Interessengruppen für großangelegte Subventionsprogramme vorgeschlagen, die den in der aktuellen Situation wichtigen Strukturwandel mehr verhindern als fördern könnten“.
Grimm steht daher auch weniger überraschend als man vielleicht denken mag, den Vorschlägen ihrer Kollegen zu einer Verlagerung gesetzgeberischer und exekutiver Kompetenzen auf (2) Expertenräte und (3) politisch unabhängige Organisationen skeptisch gegenüber.
Gegen (2) wendet sie ein, dass eine wissenschaftlich fundierte, objektiv richtige Politik eine Schimäre sei. Denn „die Aggregation individueller Präferenzen zu einer gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion sei unmöglich“ und bestimmte Modelle und Annahmen über „faktische Gegebenheiten“ seien ebenso strittig wie die notwendig immer zugrunde gelegten „normativen Standards“.
Grimm spricht sich zwar für eine politisch unabhängige Zentralbank aus, sieht aber die in (3) anempfohlene Auslagerung von Ausgabeentscheidungen weg vom Parlament und hin zu einem Infrastrukturfonds als problematisch an.
Es gebe in der Sache begründete „politische Differenzen über die Ausrichtung“ eines solchen Fonds, die einer „Aushandlung […] zwischen den politischen Parteien und ihren Anhängern“ bedürfe.
Sie begrüßt allerdings „die Bereitstellung von Infrastruktur in einnahmenfinanzierte, selbständig verschuldungsfähige Infrastrukturgesellschaften“. Sie verkennt damit aber die bei Politikern beklagte, aber bei gewinnorientierten Unternehmen besonders ausgeprägte Gegenwartspräferenz.
Wie die Privatisierung der Deutschen Bahn belegt, unterblieben Zukunftsinvestitionen gerade deshalb, weil Unternehmen gezwungen sind, sich an eher kurzfristig zu erzielenden Geldgewinnen zu orientieren.
Der Schienenverkehr scheint also ein Beispiel für öffentliche Güter zu sein, die nach Meinung Forsthoffs der Bereitstellung durch eine „öffentliche Verwaltungseinrichtung“ bedürfen, „auf deren Funktionieren [der Bürger] sich verlassen kann“. Eine betriebswirtschaftlich orientierte Leistungserbringung scheint zu einer solchen Verlässlichkeit nicht in der Lage zu sein.
Die Moral von der Geschicht'
Eine vernünftige Wirtschaftspolitik bleibt solange ein bloßer Wunsch, solange ordnungspolitische Ideologien den Blick auf die Realität verstellen. Als besonders gefährlich erweisen sich dabei allerdings nicht marktgläubige Ordoliberale, sondern als Pragmatiker erscheinende Interventionisten, die meinen, den Markt – also gewinnorientierte Unternehmen – im Gemeinwohlinteresse steuern zu können.
Denn die Bereitstellung öffentlicher Güter ist schon weitgehend privatisiert und in Zeiten der De-Globalisierung der Freihandel im vermeintlichen Interesse aller keine Option mehr.
Wie die Vorschläge der Mehrheit der Wirtschaftsweisen belegt, gibt es aber noch weitere Möglichkeiten, um den in Wahlen zum Ausdruck kommenden Volkswillen zu begrenzen und damit sicherzustellen, dass mit Wahlen kein Politikwechsel herbeigeführt werden kann.
Ordoliberale erkennen, dass damit aber notwendig eine Subventionierung gewinnorientierter Unternehmen verbunden ist, die der Vetternwirtschaft Tür und Tor öffnet.
So seltsam es erscheinen mag, erweisen sich daher unter den gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen Ordoliberale als eine der letzten ins Gewicht fallenden Verteidiger der Demokratie, wie die Einwände Grimms gegen die Vorschläge ihrer Kollegen belegen.