Wladimir Putin: Das Selbstbild hat Risse
Seite 4: Stützen Putins
Putin fordert die "Selbstreinigung" des russischen Volkes. Das erinnert an die stalinistischen "Säuberungen". Er meint das nicht im Sinne der kommunistischen Orthodoxie, sondern der russisch-patriotischen Erneuerung beschwört aber damit eine Zeit der Einheit.
Der "tiefgläubige Christ" Putin stützt sich auf die russisch-orthodoxe Kirche, die ihrerseits Putin und seine "vaterländischen" Bestrebungen bejaht, auch den Ukrainekrieg für gerechtfertigt ansieht.
Der Patriarch von Moskau und Russland, Kyrill, ist eng mit Putin verbunden und spricht – wie Putin – vom "gerechten Krieg", einer Lehre, von der die anderen Weltkirchen längst abgerückt sind (Papst Franziskus zu Kyrill: "Krieg ist immer ungerecht.") Tichon, ein national-konservative Metropolit, von dem es heißt, er sei der Beichtvater Putins, ist ebenfalls ein Anhänger des Präsidenten und hat die "Rückholung" der Krim gutgeheißen.
Die orthodoxe Kirche genießt hohe Wertschätzung in der Bevölkerung, auch wenn nur ein Bruchteil der Russen regelmäßig Gottesdienste besucht.
Die offizielle Haltung der Russisch-Orthodoxen Kirche wird allerdings nicht von allen ihren Vertretern mitgetragen. 300 Priester und Diakone haben sich öffentlich gegen den Krieg gewandt.
"Autokratie, Orthodoxie, Volkstümlichkeit" (avtokratija, pravoslavie, narodnost' – nach dem restaurativ ausgerichteten russischen Bildungsminister Sergej S. Uvarov / 1786–1855) und damit verbundene Anti-Westlichkeit – das hat Tradition in Russland. Darauf stützt sich auch Putins System. Das Syndrom ist in der russischen Bevölkerung tief verankert.
Russland und Europa – ein "Bruderzwist"
Es sollte aber nicht vergessen werden, dass diese restaurativen Tendenzen nicht der einzige Traditionsstrang Russlands sind. Die Beziehung Europas und Russlands zueinander in der Neuzeit ist durch gegenseitige Anziehung und Abstoßung gekennzeichnet. Im Zarenreich wechseln Öffnung und Abschließung gegenüber Europa, antagieren Reform und Restauration.
Verdeutlichen lässt sich das an Zar Alexander II. (1855-1881 Kaiser), der als großer Reformer und "Befreierzar" gilt, u.a. durch die Abschaffung der Leibeigenschaft. Er wollte die Rückständigkeit und Isolierung Russlands überwinden und das Zarenreich zivilisatorisch und politisch an Europa heranführen ("Dreikaiserabkommen" zwische Russland, Österreich-Ungarn und Deutschem Reich).
Sein Sohn, Alexander III. ((1881 -1894) – anscheinend zaristisches Vorbild Putins – schraubte die liberalen Neuerungen seines Vaters wieder zurück. Er setzte auf Autokratie, Russifizierung (auch der Ukraine), militärische Stärke (nicht aber Krieg), die orthodoxe Kirche, Geheimpolizei. Für ihn lag die Stärke Russlands in sich selbst.
Putin ist in seiner politische Entwicklung ein Beispiel dieser russischen Ambivalenz. Das Pendel bei ihm und der russischen Bevölkerung schwingt nach seiner Anfangszeit als Präsident wieder zurück in Richtung Abschließung. Das hat aber auch mit der US-amerikanischen und europäischen Politik zu tun, die seit dem Zerfall der Sowjetunion in frühere Bahnen zurückgekehrt ist und Russland zunehmend isoliert hat.
Alte Stereotypen und Feindbilder über Russland gewinnen wieder Einfluss, vollends durch den Ukrainekrieg. Trotz des erneut aufgeflammten "Bruderzwistes" zwischen Russland und den europäischen Mächten sollte bedacht werden, dass Russland von seiner Geschichte her als Teil des "Europäischen Hauses" betrachtet werden kann.
Jedenfalls: die Zustimmung der Mehrheit der russischen Bevölkerung zu Putins Regime beruht nicht nur auf seinem Propagandaapparat und lückenhaft-einseitigen Informationen, sondern auch auf gemeinsamen Werten – wie dargelegt.
Ob die Zustimmung zu Putins imperialistischer und bellizistischer Durchsetzung dieser Werte auf die Dauer bleiben wird, ist allerdings fraglich. Das wird vom Verlauf und Ausgang des Ukrainekrieges abhängen – und davon, wie er und die russischen Medien die Geschehnisse der russischen Bevölkerung plausibel machen können. Vorerst schließen die westlichen Sanktionen und der Krieg die russische Gesellschaft eher zusammen, als dass sie sie auseinanderdividieren.
Diktatorische oder autokratische Staatslenker wie Napoleon, Friedrich II. von Preußen, Hitler, Stalin folgten imperialistischen Ideen. Sie konnten ihr Ziel langfristig verfolgen, da sie Kontrollen, Einschränkungen und zeitliche Beschränkungen ihrer Macht aus dem Wege geräumt hatten. Ihrer Idee ordneten sie alles unter; menschliche Opfer, Verheerungen von Lebensräumen, Zerstörung von staatlichen Strukturen kümmerten sie nicht.