Wladimir Putin: Das Selbstbild hat Risse

Seite 3: Rückgriff auf die "Russische Welt"

Putin steht in einer geistigen Tradition Russlands, die über ihn hinausgeht.

Bei der inhaltlichen Analyse von Putins Reden fällt auf, dass er zu russisch-patriotischen, stalinistischen und christlich-orthodoxen Traditionen zurückgreift.

Vorbereiter der Rückorientierung zu nationalen und kirchlich-orthodoxen Ideen sind Philosophen wie der Antidemokrat, Bolschewismusgegner, Hitler-Befürworter, Monarchist, Nationalist, Slawophile, Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche Ivan Iljin (1883-1954). Neuerdings werden solche Ideen von dem neofaschistischen, antiwestlichen und antiliberalen Publizisten Alexander Dugin aufgenommen.

Russischer Patriotismus sieht ein konservatives, "heiliges Russland" dem rationalistischen, liberalen, "dekadenten" Westen gegenüber. Dabei kommt eine Auffassung zum Zuge, die eine einzigartige "russische Zivilisation" und ein einheitliches, historisches, über die russische Nation hinausgreifendes Russland postuliert. Mehr oder weniger ist damit das "Russländische Imperium" des Zarenreiches gemeint.

Diese "Russische Welt" (Русский мир) müsse "Selbstbewahrung" üben, eine "imperiale Wiedergeburt" erfahren und zur offensiven "imperialen Mission" übergehen (A. Dugin). Der Auftrag der Mission ist die russländische, europa- und weltweite Restauration der alten genuinen, vorliberalen Werte und Moral.

Über die Absicht der Wiederherstellung der Einheit der alten russischen Welt hinausgehend wird eine "eurasische Idee" propagiert (A. Dugin), mit der Schaffung einer "freien" eurasischen Zone von Wladiwostok bis Lissabon" (Ex-Staatschef D. Medejew), wohl unter Führung Russland. Die Absicht, die US-Hegemonie in Europa zu brechen, ist deutlich.

Auch diese Idee ist nicht ganz neu. Die sogenannten "Ostler" (Vostočniki) betonten Ende des 19. Jahrhunderts die Nähe Russlands zu Asien und hoben das angeblich friedlich-inklusive Vorgehen des russländischen Imperiums gegenüber der aggressiv-exklusiven Expansion der europäischen Kolonialmächte hervor.

Putin hat sich die Idee der Wiederherstellung der "Russischen Welt" zu eigen gemacht. Sie bestimmt sein geopolitisches und strategisches Konzept.

Russland nationale Sicherheitsstrategie

Eine offizielle Fassung findet das in dem Manifest "Zur nationalen Sicherheitsstrategie Russlands" (2021), das im Westen wenig zur Kenntnis genommen wurde. Das von Putin unterzeichnete und bestätigte Dokument trägt deutlich seine Handschrift. Es beschreibt die von der Politik der Russischen Föderation zu beschreitenden Wege und zu ergreifenden Mittel zu Gewährleistung der nationalen Sicherheit und Interessen.

Ein wesentliches Element ist die Wendung gegen die "zerstörerischen Einflüsse auf grundlegende moralische und kulturellen Normen" durch westliche Lebenshaltungen. Dagegen wird "die Stärkung der traditionellen geistig-moralischen Werte Russlands, die Bewahrung des kulturellen und historischen Erbes des Volkes Russlands" beschworen.

Dieses Erbe sei "aktiven Attacken" von Seiten des Westens ausgesetzt, die beabsichtigten, die "kulturelle Souveränität" Russlands zu zerstören und damit die politisch-staatliche Stabilität zu untergraben. "Der Schutz der traditionellen geistig-moralischen Werte Russlands, der Kultur und des Geschichtsbewusstseins" ziele "auf die Stärkung der Einheit der Völker Russlands auf Grundlage der Identität als Staatsbürger Russlands."

Dies schließt die "Unterstützung der im Ausland lebenden Landsleute bei der Ausübung ihrer Rechte, darunter des Rechts auf Bewahrung der gesamt-russländischen kulturellen Identität ... und die "Stärkung brüderlicher Beziehungen zwischen russischen, belarussischen und ukrainischen Völkern" ein.

Auch die Zusammenarbeit in der "Großen Eurasischen Partnerschaft" wird als Ziel der russischen Politik erklärt.