Wladimir Putin: Das Selbstbild hat Risse

Seite 5: Putin und die russische Militärdoktrin

Es wäre abwegig, Putin mit diesen historischen Gestalten zu vergleichen; aber zumindest eines hat er mit ihnen gemeinsam: sich im Auftrag eines imperialistischen Ideenkomplexes zu sehen. Dank seiner ständigen Wiederwahl kann er diesen langfristig als kühler Stratege mit wechselnder Taktik verfolgen. Aber die russische Militärdoktrin (2015) gibt ihm als obersten Befehlshaber der Streitkräfte auch die Möglichkeit zu Militäreinsätzen, mit Einschluss der Entscheidung über den Einsatz von Kernwaffen.

Wann der "Einsatz der Streitkräfte und anderen Truppen zur Abwehr einer gegen die Russische Föderation [RF] und (oder) ihre Verbündeten gerichteten Aggression und zur Erhaltung (Wiederherstellung) des Friedens …" erfolgt, hat einen weiten interpretatorischen Spielraum.

Er ist schon bei einer drohenden Aggression möglich, kann auch zum Schutz der russischen Bürger außerhalb der Grenzen der RF erfolgen und sich überhaupt auf Gebiete außerhalb der RF erstrecken, "zum Schutz der Interessen der RF und ihrer Bürger sowie der Erhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit".

Kernwaffen gehören zum Abschreckunspotential der RF ("Zügelungsstrategie"), ihr Einsatz kommt in Betracht "als Antwort auf einen gegen die RF und (oder) ihre Verbündeten erfolgten Einsatz von Kernwaffen oder anderen Arten von Massenvernichtungswaffen … Das gilt auch für den Fall einer Aggression mit konventionellen Waffen gegen die RF, bei der die Existenz des Staates selbst in Gefahr gerät." "Die Entscheidung … trifft der Präsident der RF."

Putin ist bereit, zum militärische Mittel zur Verwirklichung seiner geostrategischen und politischen Ziele einzusetzen, auch wenn keine drohende oder unmittelbare Aggression gegen die RF vorlag.

Begründugen im Sinne des Strategiepapiers und der Militärdoktrin ließen sich immer finden. Empathie mit den Opfern und Vermeidung von Zerstörungen ziviler Strukturen sind von ihm nicht zu erwarten.

Auch hier gilt, der Verweis auf das Vorgehen anderer Mächte rechtfertigt nicht das eigene Vorgehen, zumal die RF sich dazu bekennt, "globale Spannungen abzubauen, die internationale Sicherheit zu stärken" und die "Anwendung militärischer Gewalt unter Verletzung der UN-Charta" zu verhindern." (Strategiepapier)

Wie Putin begegnen?

Mit dieser Frage verlasse ich den Boden der Analyse und gebe meine Meinung wieder.

Wahrscheinlich wäre die jetzige Eskalation zwischen dem Westen und Russland zu verhindern gewesen, wenn man rechtzeitig realistisch mit Russland kooperiert und dabei dessen Interessen einbezogen hätte.

Ansätze dazu gab es in der Russland-Politik Deutschlands – die aber nun diskriminiert werden – und auch in der EU. Amerikanisches Hegemoniestreben hat sie überlagert; der unnötige Angriff Putins auf die Ukraine hat die letzten Reste zunichtegemacht.

Nun ist die Situation verfahren. Festigkeit und Maßnahmen gegen Putins völker- und menschenrechtswidrigen Übergriffe sind angebracht. Doch die Eskalationsschraube, die in Gang gesetzt wurde, birgt große und unkalkulierbare Risiken. Sie könnte Europa und Russland, wenn nicht die ganze menschliche Zivilisation in den Abgrund reißen. Dabei weiß die Friedensforschung:

Sicherheit erreicht man nicht mit Abschreckung. Frieden schon gar nicht. […] Hoffnung gibt allein das Festhalten am Dialog ...

Das Fernziel aller menschenfreundlichen und vernünftigen Politik muss sein, eine neue europäische und weltweite Friedenssicherung zu erreichen, die auch russische Interessen einbezieht. Wir sollten daran denken, dass wir noch nach dem Ukrainekrieg – und vielleicht nach Putin – mit Russland zusammenleben.

Wenn wir nicht ständige Unruhe in Europa in Kauf nehmen wollen, werden wir ein Auskommen mit Russland finden müssen Dies wird nicht ohne Abstriche und Kompromisse auf allen Seiten gehen. Zu einer realistischen Politik gehörte auch, die russische Sichtweise ernsthaft wahrzunehmen, was nicht heißt, dass man sie teilen müsste.

Vielleicht hilft auch hier ein Blick in die russisch-europäische Geschichte, in der immer wieder Bündnisse geschlossen und Übereinkünfte gefunden wurden. Doch auch das russische Strategiepapier lässt auf russischer Seite Möglichkeiten der gegenseitigen Konfliktbeilegung und Friedenssicherung erkennen. Sie sollten wahrgenommen werden.

Vielleicht ist die russische Führung zu Kompromissen bereit, wenn man ihr verlässliche Sicherungen in Aussicht stellt. Das könnte für Putin ein gesichtswahrender Ausweg aus weltweiter Isolierung und Fixierung auf die eigene Sichtweise sein.

In der USA-Zeitschrift The Atlantic ist ein bemerkenswerter Artikel zum Ukrainekrieg erschienen, der auf Fehler hinweist, die westliche Politik machen kann und aufzeigt, welche Optionen bleiben. Er endet mit den Worten:

Die schreckliche Realität ist …, dass die beste Option für den Westen darin bestehen könnte, einen Weg zu finden, wie Putin nicht so zur Rechenschaft gezogen werden muss, wie es sein sollte – aber dann nie zu vergessen, was er getan hat.