Wladimir Putin: Das Selbstbild hat Risse

Seite 2: Folgen einer Elternkonstellation

Was wird ein Kind mit dieser Elternkonstellation, in dieser sozialen Lage empfinden? Sicherlich wird es sich oftmals verlassen, vernachlässigt vorgekommen sein. Im Allgemeinen wird dies als Kränkung des Selbstwertgefühls empfunden, was auch beim Erwachsenen nachwirken kann.

Eine mögliche Reaktion ist die Kompensation durch Größenphantasien, die sich später als Ehrgeiz und Streben nach Macht bemerkbar machen. Da das Kind sich auf sich selbst gestellt sieht, wird es "seine eigenen Regeln" und eine eigene Sicht der Dinge entwickeln. Hat es damit Erfolg, wird es dieses Prinzip und womöglich auch Sichtweise und Regeln als Erwachsener beibehalten.

In einer Einzelkind-Situation wird diese Ich-Bezogenheit verstärkt, da das Kind trotz Vernachlässigung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.

In einer kommunikations- und emotionsarmen Familie ein Kind wenig Anregung zur Entwicklung von Empathie und vielseitiger Beziehungsfähigkeit bekommt. Erfahrungen in der Peer-Group können das nicht vollständig ersetzen, da sie meist einseitig sind.

Die vermeintliche Kränkung durch die Eltern muss nicht zur völligen Ablehnung führen. Es kann sein, dass sie als Entlastungsmöglichkeit idealisiert werden.

Wenn das Gegengewicht einer fürsorglichen Mutter schwach ist, wird sich ein Knabe irgendwann einmal mit dem strengen Vater identifizieren und selbst autoritäre Züge ausbilden, zumal wenn er hinter der Strenge dir verborgene Liebe des Vaters spürt.

Ist eine Familie traumatisiert, etwa durch Armut oder Kriegsereignisse, wird ein Kind ebenfalls unter dem Trauma leiden. Wurde das Trauma nicht bewältigt, dann wird sich auch beim Kind die Wunde nicht schließen. Es wird versuchen, sie durch äußere Aktivitäten zu heilen.

Erfahrene Mängel – Armut etwa – können dazu führen, dass der Erwachsene nach Luxus und Reichtum strebt. Womöglich werden auch Ersatzfiguren oder -umstände gesucht, die für Frustrationen schuldig gemacht werden können.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass in Putins Kindheit solche "Dispositionen" angelegt wurden. Wahrscheinlich haben auch andere in seiner Generation in der Kindheit Erfahrungen wie er gemacht.

Da nicht alle seinen Weg der Kompensation gehen konnten, bietet er sich als Projektionsfläche zur Bewältigung persönlicher und nationaler Kränkungen an. Die persönlichen Schicksale und Prägungen sind eng mit nationalen und gesellschaftlichen Umständen verwoben – wie das Beispiel der Herkunftsfamilie Putins zeigt.