Wohin führt die "Freiwirtschaftslehre"?
Seite 4: Gesell ist ein fanatischer Befürworter von Konkurrenz und Wirtschaftswachstum
- Wohin führt die "Freiwirtschaftslehre"?
- Die FWL stellt das Verhältnis zwischen Zins und Kapitalakkumulation auf den Kopf
- Die FWL kritisiert nur den Zins, nicht aber andere Eigenschaften des Kapitalismus
- Gesell ist ein fanatischer Befürworter von Konkurrenz und Wirtschaftswachstum
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Die "Natürliche Wirtschaftsordnung" ist für Gesell
eine Ordnung, in der die Menschen den Wettstreit mit der ihnen von der Natur verliehenen Ausrüstung auf vollkommener Ebene auszufechten haben, wo darum dem Tüchtigsten die Führung zufällt, wo jedes Vorrecht aufgehoben ist und der Einzelne, dem Eigennutz folgend, geradeaus auf sein Ziel lossteuert, ohne sich in seiner Tatkraft durch Rücksichten ankränkeln zu lassen.
Gesell 1991, XVII
Gesell sieht die Konkurrenz als so zentral an, dass er sich von ihr wahre Heilungskräfte auf die ganze Gesellschaft erwartet. Die "Fortpflanzung der Fehlerhaften" sei durch "das große Zuchtwahlrecht, dieses wichtigste Sieb bei der Auslesetätigkeit der Natur" zu bekämpfen (Ebd. XXI). Gesells Anleihen an biologistische Zuchtmetaphern sind kein von seiner ökonomischen Auffassung zu trennendes Zeitkolorit, sondern bringen seine Verherrlichung der Konkurrenz auf den Begriff.
Die "Natürliche Wirtschaftsordnung" lasse sich "auch als ‚Manchestertum’ bezeichnen ..., jene Ordnung, die wahrhaft freien Geistern immer als Ziel vorgeschwebt hat - eine Ordnung, die von selbst, ohne fremdes Zutun steht und nur dem freien Spiel der Kräfte überlassen zu werden braucht" (XVII). Gesell lässt keine Eindeutigkeit vermissen:
Die Manchesterschule war auf dem richtigen Wege, und auch das, was man von Darwin her später in diese Lehre hineintrug, war richtig.
Gesell XVIII
Unausweichlich ist dann die Sorge, es gäbe zu viel "Unproduktive". Sie erscheinen als bleiernes Gewicht, das den Schwung der sog. Leistungsträger abbremst. Entsetzlich sei, "wieviel wir jährlich ausgeben für das Armenwesen, die Krankenpflege, die Blinden- Irren, Zucht- und Waisenhäuser" (Ebd., 264).
Gesell teilt die zu seiner Zeit weit verbreitete Vorstellung von der genetischen Erklärbarkeit von Leistungsunterschieden. Wie andere auch stellt Gesell "statistische Erhebungen über die Kosten, die die Produkte der Unzucht verursachen", an. Gesells Zuchtphantasien (sein Votum zur "Förderung der Hochzucht" (Gesell 1995, 261) radikalisieren die Bejahung von Konkurrenz und Profit. Allein diejenigen, die gemessen an diesen Maßstäben Erfolg haben, beweisen damit eine "gute" natürliche Ausstattung. Allein deren Vererbung macht den Nachwuchs der Bevölkerung "gut".
Wie bei der Prädestinationslehre, so findet sich auch hier die paradoxe Einheit von Voluntarismus und Fatalismus. Nur wer danach strebt, seine Kräfte optimal zum Ausdruck zu bringen, kann praktisch beweisen, dass er diese Substanz hat. Aus dem Erfolg lasse sich auf die Existenz der ihn ermöglichenden natürlichen Gaben bzw. auf die Erwähltheit durch Gott zurückschließen.
Die FWL folgt nicht nur der Vorstellung eines archimedischen Punkts. Sie ist nicht nur ein Ein-Punkt-Konzept, das meint, mit der Veränderung eines zentralen Faktors das Ganze verändern zu können. Die FWL hat nicht nur keinen Begriff von der Vernetzung mehrerer Faktoren, die erst in ihren Wechselbeziehungen ein System aufbauen, das eine Emergenz entfaltet und sich die Faktoren unterordnet. Mattick sagt zu Recht, Gesell "war ein Gegner von Zins und Grundrente, weil sie die kontinuierliche Ausweitung der Produktion behinderten" (Mattick 1974, 13). Gesell ist ein euphorischer Fan der Akkumulation:
Alles in der Natur des Menschen, ebenso wie in der Natur der Volkswirtschaft, drängt auf eine unaufhaltsame Vermehrung der sogenannten Realkapitalien (Sachgüter) hin, eine Vermehrung, die nicht einmal beim völligen Wegfall des Zinses innehält.
Gesell: Die natürliche Wirtschaftsordnung 6. Aufl. Berlin u Bern 1924, 350
Die FWL ist eine Lehre von begeisterten Anhängern des Kapitalismus, die im Zins einen Hemmfaktor des für die Akkumulation nötigen schnellen Geldflusses sehen.