Zwang zur Scheidung

In Großbritannien dürfen Scheidungsrichter jüdische Ehemänner zur Übergabe des religiösen Scheidungsbriefes zwingen

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Der "Jewish Divorce Act" wurde vom britischen Unterhaus im Januar vergangenen Jahres verabschiedet, nachdem sich die Fälle gehäuft hatten, in den in Großbritanniens überwiegend orthodox orientierter jüdischer Gemeinschaft Ehemänner ihren Frauen die religiöse Scheidung versagt hatten. Seitdem drohen scheidungsunwillen zukünftigen Ex-Ehemännern Bußgelder und im schlimmsten Fall Zwangshaft, falls sie sich weigern, ihre Frau freizugeben. In jedem Fall jedoch dürfen Richter die zivile Scheidung blockieren, bis die religiöse Trennung vollzogen ist.

Zehn Jahre haben sie gebraucht, um sich zu verlieben, zu heiraten, ein gemeinsames Leben aufzubauen und sich hassen zu lernen. Gerade einmal eine Stunde dauert an diesem Montag morgen Mitte November Jonathan und Miriam Lerners erster Versuch, ihr gemeinsames Leben von einem Scheidungsrichter im Londoner Norden zu Ende bringen zu lassen. Eine Stunde, in der er fast den gesamten Besitz und das alleinige Sorgerecht über die Kinder fordert - als Gegenleistung für den Get, der es seiner künftigen Ex-Frau erlauben würde, sich erneut vor einem Rabbiner in einer Synagoge trauen zu lassen. Als offensichtlich wird, dass es an diesem Tag nicht zu einer Einigung kommen wird, blickt Richter Matthew White von einem Ehepartner zum anderen und sagt: "Ich werde diese Ehe nicht auflösen, bis beide Parteien eine Vereinbarung getroffen haben, die den Gesetzen dieses Landes und der jüdischen Religion gleichermaßen genügt."

Das darf er, seit Großbritanniens Parlament im Januar vergangenen Jahres ein Gesetz verabschiedet hat, wie es in Europa einmalig ist: Jeder Scheidungsrichter hat seitdem die Befugnis, die zivile Scheidung einer Ehe zwischen zwei jüdischen Partnern zu blockieren, bis die religiöse Trennung vollzogen ist. Die Verteilung von Besitz Sorgerecht für eventuelle Kinder wird dabei vom Richter festgesetzt, der dabei die Empfehlung des zuständigen Beit Din berücksichtigen soll. Sollte sich der Ehemann dennoch weigern, seiner Frau den Scheidungsbrief zu übergeben, drohen Bußgelder und, im schlimmsten Fall, Zwangshaft - zu der es aber bis lang in Keinem der 54 seit Februar 2003 aktenkundig gewordenen Fälle geworden ist.

"Es würde auch keinen Sinn machen", sagt der Parlamentsabgeordnete Andrew Dismore, der die Gesetzesvorlage eingebracht hatte. "Die Zwangshaft könnte ewig dauern." Es sei ihm nicht leicht gefallen, Religion und Staat auf diese Weise zu vermengen. "Nach langen Gesprächen mit betroffenen Ehefrauen und Rabbinern hat sich gezeigt, dass dies notwendig war."

Denn immer wieder versagen in Großbritanniens überwiegend orthodox ausgericheter jüdischer Gemeinschaft Männer ihren Frauen den Get - mit fatalen Folgen, wie Miriam Lerner weiß: "Für mich würde ein Leben ohne Get bedeuten, dass mir eine erneute religiöse Trauung versagt bliebe", sagt die 32-Jährige. "Würde ich eine Zivilehe eingehen, bedeutete dies, dass ich aus der Gemeinde ausgeschlossen und Kinder aus der neuen Partnerschaft für sieben Generationen Ausgestoßene sein würden."

Chained Women

Die Auswirkungen für den Ehemann sind derweil gering: Da die Halachah für sie im Falle einer neuen Besitzung keine Sanktionen vorsieht, befinden sie sich in einer Machtposition. Die einige von ihnen ausnutzen, um ihrer Frau entweder aus Habgier oder als letzte Rache den Scheidungsbrief zu versagen und sie zu einer von rund 250 Agunoth, also "geketteten Frauen", zu machen, die derzeit im Vereinigten Königreich leben.

Weil die Religionsgerichte in diesen Fällen nur Empfehlungen abgeben können, die die Ehemänner zu nichts verpflichten, kann dieser Zustand dauern - Jahrzehnte lang. So wie im Fall von Suzanne Zinkin, die seit 24 Jahren als Agunah lebt. Ihr und vielen anderen geketteten Frauen hilft das neue Gesetz nichts: Ihr Ehen wurden oft lange vor der Einführung der neuen Regelung geschieden.

Gemeinsam mit rund 150 weiteren Agunoth hat sie deshalb die Organisation "Chained Women" gegründet, die seit 1996 mit spektakulären Aktionen auf das Schicksal der Frauen aufmerksam macht. So ziehen sie, unterstützt von Anwältinnen, Parlamentsabgeordneten und, immer öfter, auch Männern, sonntags morgens vor den Häusern von scheidungsunwilligen Ehemännern auf, und stossen damit auf große Zustimmung - auch innerhalb der örtlichen Gemeinden, die oft wenig für das Handeln dieser Männer übrig hat. "Mehr als zu protestieren und die Öffentlichkeit zu informieren können wir aber nicht tun", sagt Zinkin.

Doch nicht nur deshalb ist sie mit dem Gesetz nicht so richtig zufrieden: "Als Jüdin wäre es mir am Liebsten, wenn man die Halachah ändern würde und den Batei Din Sanktionsmöglichkeiten an die Hand geben würde" - was nach Ansicht von Großbritanniens Oberrabbiner Jonathan Sacks nicht möglich ist: "Dazu bräuchte man einen Sanhedrin im Tempel zu Jerusalem, den es aber nicht mehr gibt." So bliebe ihm und seinen Kollegen in der Regel nichts anderes übrig, als Empfehlungen abzugeben und auf Einsicht zu hoffen: "Wie die Eheschließung beruht auch die Scheidung auf Freiwilligkeit - eine Scheidung, die unter Zwang erfolgt ist, wäre also ungültig." Deshalb begrüße er den Umweg über die zivile Gesetzgebung: "Die Religionsgesetze schreiben auch vor, dass Juden den Gesetzen des Landes folgen müssen, in dem sie leben: "Da dieses Gesetz nur auf Antrag eines der beiden Partner Anwendung findet, sehen wir hier keinen Zwang gegeben."

Doch nicht jeder versteht das Problem der geketteten Frauen: "Ich bin den vergangenen Wochen immer wieder von nicht-jüdischen Freunden und Bekannten gefragt worden, warum ich mir diese Mühe mache und nicht einfach auf den Scheidungsbrief verzichte", sagt Miriam Lerner, deren Mann Anfang Dezember noch vor dem ersten Bußgeld beigegeben hat. "Ich habe dann geantwortet, dass ich selber ja noch darüber nachdenken könnte - aber ich darf doch nicht für zukünftige Generationen entscheiden, wie sie ihr Leben gestalten sollen."