Zweimal Lebenslänglich für einmal Rasen

Seite 4: Auf unseren Straßen findet eine Art Wett- und Aufrüstung statt

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Versetzen wir uns nun mit den bisher gewonnenen Erkenntnissen einmal in die Situation der Raser und Unfallfahrer. Sie stehen an einer Ampel. Sie sitzen in einem Fahrzeug mit 450 PS. Sie gehören zu denjenigen Mitmenschen, die ihr Selbstwertgefühl zu einem großen Teil durch ihr Fahrzeug definieren. Sie wissen: In ihrem Milieu, in ihrer Gruppe bedeutet der schnittige Wagen: Anerkennung. Respekt. Er geht soweit, dass er sogar die Partnerfindung beeinflusst bzw. erleichtert.

Sie wissen, dass Ihr Fahrzeug auch Macht bedeutet. Visualisieren Sie sich nur einmal, wie es aussieht, wenn vor Ihnen 450 Pferde stünden. Und Sie wissen genau: Diese hören auf Ihr Kommando. Wenn Sie "Los!" rufen, rennen die 450 Pferde auch tatsächlich los. Da würde der Boden vibrieren. Aufmerksamkeit wäre Ihnen gewiss.

Der Punkt also ist: Die Motorleistung Ihres Fahrzeuges liegt weit über der eines "durchschnittlichen" Fahrzeuges, das sich im Straßenverkehr bewegt. Mit einem Tritt aufs Gaspedal können Sie zeigen: Sie sind schneller! Und das ist in diesem Fall gleichbedeutend mit überlegen sein. Sie werden durch Ihr Fahrzeug quasi zum Gewinner. Das süße Gift des Sieges können Sie mit jedem Tritt aufs Gaspedal spüren.

Doch nun steht neben Ihnen ein Fahrzeug, das Sie nicht einfach so hinter sich lassen können. Neben Ihnen steht ein Wagen, der Ihnen "gefährlich" werden kann. Vielleicht hat er 50 PS weniger, aber Sie wissen: Ein Moment des Zögerns, ein Moment zu spät gestartet, kann ausreichen, um plötzlich nicht mehr "der Gewinner" zu sein. Die Ampel zeigt schon eine ganze Weile rot. Das Adrenalin fängt an, sich bemerkbar zu machen. Wettkampf. Jetzt geht es um alles.

Bei diesem Rennen nicht vorne zu sein, heißt: zum Verlierer zu werden. Für jemanden, der seine eigene Persönlichkeit so eng an ein Fahrzeug bindet, wie es Raser nun mal oft tun, wird die "Niederlage" zu einem Verlust an Persönlichkeit.

Nun erfolgt er also, der Tritt aufs Gaspedal. Die 450 Pferde ziehen an, rennen los. Das Fahrzeug, das weit über eine Tonne wiegt, beschleunigt so stark, dass sie in den Sitz gepresst werden. Sie verschmelzen plötzlich mit dem Fahrzeug und der Geschwindigkeit. Längst hat sich auch ihre anthropologische Programmierung bemerkbar gemacht. Nun geht es quasi um ihr "Überleben". Zählen Sie einmal im Sekundentakt auf vier oder fünf. Eins, zwei, drei, vier, fünf. In dieser kurzen Zeit zeigt die Tachonadel bereits 100 km/h, aber Ihr Fahrzeug besitzt so viel Kraft, dass es sich immer weiter und immer schneller nach vorne bewegen kann.

Bei dieser Geschwindigkeit, in den mehr oder weniger engen Kulissen einer Stadt, verschmilzt die Umgebung zu einem Gesamtbild, dass nur noch aus Strichen zu bestehen scheint. Häuser, Autos, Bäume, leuchtende Werbeschilder, Außenbeleuchtung: All das das kann gar nicht mehr einzeln wahrgenommen werden. Ihre Konzentration richtet sich auf den Straßenverlauf und vor allem auch auf ihren "Gegner". Wo ist er? Dicht hinter Ihnen? Neben Ihnen? Oder gar fast vor Ihnen?

Jetzt ist sie da, die Situation, wie in einem Film. Sie sind der coole Fahrer. Der Held. Nicht "aufgeben", auf keinen Fall. Die Tachonadel zeigt 160. Auf den Wagen, der plötzlich vor Ihnen die Straße kreuzt, können Sie nicht mehr reagieren. Da ist er, der Crash, da ist sie, die Realität. Eine Realität, die keinen Raum mehr lässt für das Image vom coolem Fahrer, vom Helden. Plötzlich gibt es kein Ich-geb-Gas-ich-will-Spaß mehr. Ein Trümmerfeld ist entstanden. Geschaffen von Ihnen. Leid, Tod, Zerstörung.

Dabei war das doch gar nicht beabsichtigt. Sie wollten doch nur ...

In manchen Situationen, kann das Leben unerbittlich sein. Ein "Reset-Knopf" steht nicht zur Verfügung. Die geschaffene Realität, wir haben es bereits angesprochen, kann nicht mehr umgekehrt werden.

In dieser kleinen szenischen Beschreibung wird, von der "anthropologischen Injektion" einmal abgesehen, eines der handfesten Probleme deutlich, die für die schweren Raserunfälle mit verantwortlich sind. 4 bis 5 Sekunden. So schnell beschleunigen mittlerweile Fahrzeuge, die sich, auf dem ein oder anderen Weg, bereits junge Männern in ihren 20er Jahren zulegen können.

Während noch vor einigen Jahrzehnten in Deutschland nur ein relativ überschaubarer Kreis an Fahrzeugen mit solchen Beschleunigungswerten vorhanden war, ist das heute anders. Viele Autohersteller haben Fahrzeuge mit 300, 400 PS und mehr in ihrem Angebot. Wer die Entwicklung der PS-Zahl von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen verfolgt, kann erkennen: Diese hat immer weiter zugenommen. 1995 hatten die Fahrzeuge im Durchschnitt noch 95 PS. Heute sind es bereits über 140 PS.

Auch wenn die Autos sicherlich schwerer geworden sind und damit auch eine gewisse Leistungssteigerung bei Motoren notwendig wurde, zeigen die Zahlen: Auf unseren Straßen findet eine Art Wett- und Aufrüstung statt. Auch hier wird deutlich: Wenn Neufahrzeuge in Deutschland bereits im Schnitt über 140 PS haben, dann haben wir einen weiteren Hinweis darauf, dass wir es mit einem kulturellen Phänomen zu tun haben.

Diese Zahlen machen sichtbar: Nicht nur eine kleine Gruppe von Autofahrern möchte ein Fahrzeug besitzen, mit dem möglichst auch rasant gefahren werden kann. Zu diesen Zahlen kommt es nur, wenn sehr viele Autofahrer Wert darauf legen, ein relativ PS-starkes Fahrzeug im Straßenverkehr zu bewegen. Festzustellen ist: Der Straßenverkehr wird gleichsam zu einem Spiegelbild menschlicher Antriebe.

Wie nah das Rasen "uns" ist, zeigt auch ein Artikel, der vor kurzem auf einem der großen deutschen Medienportale erschienen ist. Einerseits berichtet das Medium über die Raser mit einer gewissen Fassungslosigkeit , andererseits finden sich dann die folgenden Zeilen in einem Artikel, der von der Testfahrt eines Redakteurs mit einem Camaro handelt:

"An der nächsten Ampel", so schreibt der ZEIT-Autor, "kommt der Härtetest, das Aufeinandertreffen mit einem deutschen Premiumwagen: Ein BMW steht neben mir. Kaum springt die Ampel um, trete ich voll durch, mein Wagen bricht hinten leicht aus, ich fange ihn ein, den BMW sehe ich im Rückspiegel. 1 : 0 für den Chevy."

Sicher, das war ein harmloser Spaß und ist nicht gleichzusetzen mit jemand, der mit 160 Km/h durch Berlin rast. Aber: Ein Kreis schließt sich an dieser Stelle. Ein 396 Chevy im Song Racing in the Street rast irgendwo in den USA der 70er Jahre über den Asphalt. Einem Zeit-Redakteur gelingt es im Jahr 2017 in Berlin einen BMW mit einem 1:0 zu "besiegen". Das Rasen, es ist ein kulturell tief verwurzeltes Phänomen - über Zeiten und Generationen hinweg.

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