Brasiliens De-facto-Präsident Temer im Abwehrkampf

Michel Temer. Bild: Fabio Rodrigues-Pozzebom/CC BY-SA-3.0 br

Umstrittener Politiker inmitten eines Korruptionsskandals. Proteste für Neuwahlen. Parteien entziehen Staatsführung die Unterstützung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Brasilien wehrt sich De-facto-Präsident Michel Temer inmitten andauernder Proteste gegen seine Absetzung wegen eines neuen Korruptionsskandals. Mit einem Winkelzug will der 76-Jährige nun offenbar seine Chancen vor einer Entscheidung des Wahlgerichtes am Dienstag der kommenden Woche verbessern: Temer entließ den bisherigen Justizminister und berief den früheren Richter am Wahlgerichtshof, Torquato Jardim, in das Amt. Die Tageszeitung Folha de São Paulo mutmaßte, der angeschlagene Staatschef wolle seine Chancen verbessern, indem er einen Juristen des entscheidenden Gremiums in sein Kabinett aufnimmt.

Für den aktuellen Skandal sorgte die Veröffentlichung von Gesprächsmitschnitten des Unternehmers Joesley Batista. Der Geschäftsmann und Besitzer des weltgrößten Fleischproduzenten JBS hatte die Unterredung mit Temer heimlich mitgeschnitten. Gegenüber dem De-facto-Präsidenten gestand er ein, zahlreiche Politiker bestochen zu haben, darunter den inzwischen wegen Korruption inhaftierten ehemaligen Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Eduardo Cunha.

Cunha und Temer sind die führenden Figuren hinter einem parlamentarischen Putsch (Brasiliens korrupte Bonzensetzen zum Putsch an) gegen die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff. Auch die Politikerin der Arbeiterpartei soll Zahlungen erhalten haben. Das Wahlgericht prüft daher, ob die gesamte Wahl 2014 für ungültig erklärt wird. In diesem Fall – das haben tausende Demonstranten in den vergangenen Tagen und Wochen wiederholt gefordert – würde ein neues Staatsoberhaupt gewählt werden.

2014 war Rousseff gewählt worden, Temer kam als ihr Vize ins Amt und übernahm nach dem Parlamentsputsch die Staatsführung, ohne sich je direkt einer Abstimmung stellen zu müssen. Er ist einer der unbeliebtesten Politiker der Geschichte des südamerikanischen Landes, Ende März zeigten sich nur noch zehn Prozent mit seiner Politik einverstanden.

Temer ficht das nicht an. "Brasilien steht nicht still und wird wegen der aktuellen Krise, die ich anerkenne, nicht stillstehen", schrieb er in einem Gastbeitrag für die Folha de São Paulo. In dem Text griff er zugleich die Demonstrierenden an, die in seinen Augen "die Demokratie verachten".

Er werde sich weiter dafür einsetzen, eine umstrittene Arbeitsmarktreform durchzusetzen . Im Kern geht es ihm dabei darum, den Zugang zu staatlichen Renten zu erschweren. Das Renteneintrittsalter für Männer soll auf 62 Jahre, für Frauen auf 65 Jahre festgelegt werden – auch bei Berufen, bei denen bislang eine Frühberentung vorgesehen ist. Staatliche Rentenzahlungen sollen zudem nur diejenigen bekommen, die mindestens 25 Jahre in die Kassen eingezahlt haben.

Vier Parteien – die Brasilianische Sozialistische Partei (PSB), die Sozialistische Volkspartei (PPS), die Nationale Arbeitspartei (PTN) und die Humanistische Solidaritätspartei (PHS) haben ihre Unterstützung für Temer zurückgezogen. Damit hat der noch amtierende Staatschef die Unterstützung von 66 Abgeordneten verloren.