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Außer Kontrolle

Nordrhein-Westfalens Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) will das Recht auf Vergessenwerden gesetzlich verankert sehen. Suchmaschinenbetreiber sollen bestimmte Daten löschen.

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Schon als der EuGH das "Recht auf Vergessenwerden" gegenüber Google bestätigte, fragten sich Kritiker, wieso die bisherigen Möglichkeiten nicht ausreichen und weshalb die Entfernung von Links und/oder Verweisen auf bestimmte Seiten und /oder Daten, nicht aber die Daten selbst entfernt werden sollen.

Suchmaschinenbetreiber stellen Listen von Verweisen zusammen, erlauben also Orientierung im großen weltweiten Netz. Doch sie bieten in ihrer Funktion als Suchmaschinenbetreiber nicht selbst persönliche Daten an. Ein Foto eines Jugendlichen, der an einem Saufgelage teilnimmt, bleibt deshalb im Netz, wenn eine Suchmaschine nicht mehr darauf verweist (sofern nicht auch der Anbieter zur Löschung verpflichtet wird). Es wird in so einem Fall höchstens etwas schwerer, das Foto zu finden. Die Möglichkeit dazu ist jedoch weiterhin gegeben.

Nun meint der nordrhein-westfälische Justizminister Thomas Kutschaty, er "halte es für problematisch, wenn es keine gesetzliche Regelung gibt und wir uns in Fragen von Persönlichkeitsrechten auf ein Entgegenkommen von Google verlassen müssen". Damit offenbart er, dass er vom bisherigen Recht wenig verstanden hat.

Das Gerede vom "rechtsfreien Raum" ist ebenso leeres Gerede wie das von den fehlenden Durchsetzungsmöglichkeiten für Persönlichkeitsrechte im Netz. Es ist bereits jetzt durchaus machbar, sich gegen ehrverletzende Kommentare, Schmäkritik usw. im Netz zu wehren - und es ist auch möglich, bestimmte Daten zu löschen.

Hier wäre es für die Nutzer der entsprechenden Dienste (und gerade auch der sozialen Netzwerke) wichtig, dass sie bereits von Anfang an die Geschäftsbedingungen sorgfältig lesen und sich bewusst darüber sind, was dies für sie bedeutet. Wer Fotos oder Daten von sich selbst hochlädt, hat beim Löschen verhältnismäßig wenig Probleme. Als Beispiel sei hier Facebooks Hilfe erwähnt.

Schwieriger wird es, wenn die betreffenden Daten von anderen hochgeladen wurden. Hier kann im deutschen Rechtsraum bei fehlender Einwilligung des Abgebildeten gegen die Daten vorgegangen werden - gerade im Bereich Fotografie. Auch bei Verleumdung oder Hetze gibt es Möglichkeiten.

Allerdings gehen die Wünsche des Justizministers weiter, denn er spricht gezielt auch Fotos vom Oben-Ohne-Baden am Strand an, die deshalb gelöscht werden sollten weil der zukünftige Arbeitgeber sie als verwerflich einstufen und damit der Abgebildeten keine Chance auf einen Arbeitsplatz geben könnte.

Es geht also nicht nur um das, was geeignet ist, den Abgebildeten zu dikreditieren, sondern auch um das, was von ihm selbst irgendwann aus irgendwelchen Gründen als schlecht angesehen werden könnte. Jeder soll insofern von ihm einst irgendwo eingestellte Daten jederzeit verändern oder löschen (bzw. dies von den jeweiligen Anbietern verlangen) können.

Es ist verständlich, dass gerade auch Kinder und Jugendliche vor den Folgen ihrer Unbekümmertheit vor dem Erwachsenwerden geschützt werden sollen. Doch bei der Diskussion um das Recht auf "Vergessenwerden" bleibt die Rolle der Gesellschaft außen vor. Eine Gesellschaft, die gerade auch im Bereich Erwerbstätigkeit immer höhere Ansprüche an den Lebenswandel eines Menschen stellt, seine Vergangenheit zu durchleuchten bereit ist und jeden Fehler (egal wann weshalb und in welchem Kontext begangen) gnadenlos seziert.

Der Mensch soll in immer höherem Maße fehlerfrei, ja moralisch einwandfrei sein und keinerlei Reibungspunkte bieten. Da kaum jemand diesen Ansprüchen gerecht werden kann, sind Placebos wie das "Recht auf Vergessenwerden" notwendig, um so aus einem Menschen mit Ecken und Kanten einen den Vorgaben entsprechenden Menschen zu formen.

Dies geschieht letztendlich durch Geschichtsklitterung - denn das Oben-Ohne-Baden, das Saufgelage et cetera haben ja stattgefunden. Sie werden durch das "Recht auf Vergessenwerden" nur versteckt; und dies auch noch sehr oberflächlich. Auf das Durchleuchten von Kandidaten spezialisierte Personen und Firmen werden weiterhin die "Fehler" aufdecken, so dass letztendlich niemandem wirklich gedient ist.

Der Ansatz, die fraglichen Daten direkt beim Anbieter löschen zu können, ist insofern zwar schon effektiver, doch er bietet ebenfalls nur eine technische Lösung für ein gesellschaftliches Problem.

Der Datenschutzkünstler Padeluun sagte bereits vor Jahren, dass Verzeihen besser sei als digitales Vergessen, das letztendlich auch nur mit Kollateralschäden in Bezug auf Informations- und Meinungsfreiheit einhergehen wird. Auch Chroniken würden darunter leiden, Diskussionsstränge verlören sich im Nichts oder wären kaum nachvollziehbar, Zitate wären unauffindbar, wichtige Informationen entschwänden.

Die Frage, ob eine Gesellschaft, die in Bezug auf noch so weit zurückliegende Fehler gnadenlos ist, einfach hingenommen werden sollte, wird dabei nicht aufgeworfen. Dabei wäre es durchaus interessant zu sehen, wie sich dieser Wunsch vom "makellosen Menschen" überhaupt noch mit einer Wirklichkeit verträgt, in der viele Menschen ihre Fehler öffentlich offenbaren.

Der Verzicht auf das "Recht auf Vergessenwerden" könnte nämlich auch zu einer offeneren und toleranteren Gesellschaft führen, die über die Fotos des sechzehnjährigen Komasäufers oder der siebzehnjährigen halbnackten Partytänzerin ebenso generös hinwegblickt wie über vor etlicher Zeit getätigte Kommentare, die bei vielen nur einen Entwicklungsprozess, aber keinen unveränderbaren Charakter belegen.