Der Übertritts-Wahnsinn

Stress, Mobbing und Ängste kennzeichnen die Zeit vor dem Übertrittszeugnis für das Gymnasium in Bayern. Wäre es besser, wenn die Eltern und nicht die Noten entscheiden würden?

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Heute wurden in Bayern die Übertrittszeugnisse an 100.000 Grundschüler der vierten Klasse ausgehändigt, nicht wenige Hände dürften gezittert haben. Der für den Übertritt ins Gymnasium nötige Durchschnitt von 2,33 in den Fächern Deutsch, Mathematik und Heimat-und Sachunterricht steht mit dem Wahnsinn im Bunde.

Vor dem sind auch gut geerdete, in Alltagssituationen nicht zur Hysterie neigende Eltern nicht gänzlich gefeit sind, weil er die ganze Welt, die mit der Schule verbunden ist, durchdringt. In manchen Schulklassen führte der Druck, den Übertritt zu schaffen, zu einem unglaublichen Konkurrenzkampf unter Schülern, in deren Verlauf aus früheren Schulfreunden mobbende Rivalen werden. Der Stress läßt ohne Übertreibung Blut, Schweiß und Tränen fließen, viele Tränen. Die Angst vorm Versagen ist eine Geißel in den vierten Klassen, deutlich zu spüren auch bei den Gesprächen unter Eltern, bei Elternabenden mit Lehrern, bei anwaltlichen Drohungen gegenüber Lehrern. Die ersten Schritte zu dieser Verfinsterung werden bereits in der ersten Klasse gemacht. Schon da lässt der fatale Psychomix aus übertriebenem Ehrgeiz und Prestigeangst mancher Eltern Ansprüche schneller und höher wachsen, als es der Lehrplan und das Alter der Schulkinder vorsehen.

Kaum jemand kann sich dem Stress entziehen, viele beklagen ihn, auch die Lehrer: "Kinder und Lehrer gehen kaputt", wird Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrerverbands, in der Süddeutschen Zeitung zitiert Doch was lässt sich dagegen tun?

Alljährlich lassen sich Initiativen hören, die das Übertrittszeugnis abschaffen wollen, so zum Beispiel die Grünen, die im bayerischen Landtag einen Antrag gestellt haben. Ihr Bildungsexperte Thomas Gehring bezweifelt grundsätzlich, ob die frühe stressbereitende Sortierung wirklich den Begabungen der Schüler gerecht wird. Die hohe Abbrecherquote am Gymnasium - jedes dritte Kind, das nach der vierten Klasse aufs Gymnasium wechselt, schafft es nicht bis zum Abitur - spreche jedenfalls nicht für die Schulpolitik in Bayern. Von Seiten der SPD gibt es ähnliche Kritik, der Ausleseprozess komme zu früh, so die SPD-Landtagsabgeordnete und Bildungspolitikerin Karin Pranghofer:

"Bei Neun- und Zehnjährigen werden hier grundlegende Weichen für die Zukunft gestellt, die die künftigen Entwicklungsschritte vollkommen außer acht lassen."

Die Linke in Bayern ist gegen die Übertrittszeugnisse. Beklagt wird Stress und Drill und große soziale Unterschiede, die durch das mehrgliedrige Schulsystem noch weiter vertieft werden. Besser wäre eine Schule für alle Kinder bis zur 10. Klasse, so der Vorschlag der bayerischen Linken.

Und der Bayerische Elternverband spricht sich gegen die Regelung in Bayern aus – mit Verweis darauf, dass nur noch in vier von 16 Bundesländern der Notendurchschnitt über die Schullaufbahn von Grundschülern entscheide. Man will, wie dies der Vorschlag der Grünen impliziert, selbst über die Schullaufbahn der Kinder entscheiden. „Eltern seien sehr wohl in der Lage, eine verantwortungsvolle Entscheidung für ihr Kind zu treffen“, wird die Elternverbandvertreterin Vertreterin Ursula Walther wiedergegeben.

Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass Eltern ihre Kinder tatsächlich gut kennen und einschätzen können und dies mit freiem Blick, der nicht von Ängsten und Ehrgeiz verstellt ist. Damit sind nicht nur die ehrgeizigen Eltern der bildungsbürgerlichen Schicht gemeint, die bei diesem Verfahren ebenfalls Vorteile hätten, sondern auch die Eltern, die eine geringere Schulbildung haben und daher eine größere Scheu vor dem Schulmilieu, von dem andere denken, dass sie dort daheim sind und ihre Kinder unbedingt hineingehören.