Kein "tender kiss", sondern sexuelle Belästigung

Außer Kontrolle

Ein Kuss auf den Helm eines Polizisten und mehr sorgen in Italien für Probleme. Was zunächst als versöhnliche Geste in den Medien beschrieben wurde, war eindeutig anders gedacht.

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Missachtung wollte sie zeigen, sagt die Studentin mit dem Namen Nina de Chiffre, die sich in Susa gemeinsam mit anderen Demonstranten gegen den Bau einer neuen Bahntrasse für einen Schnellzug einsetzte. Der Zug soll von Turin nach Lyon führen und beispielsweise die Fahrt von Paris nach Milan von sieben auf vier Stunden reduzieren. Doch die Bewohner von Susa zeigten sich davon wenig begeistert.

Wie bei Demonstrationen üblich, driften die angegebenen Teilnehmerzahlen auseinander – während die Polizei von 7.000 spricht, haben die Organisatoren von 40.000 gesprochen. Fest steht, dass das kleine Dorf (etwas über 6.000 Einwohner) von den Demonstranten stark frequentiert wurde. Eine der Demonstranten, Nina de Chiffre, durfte sich besonderer medialer Aufmerksamkeit erfreuen – sie ging nicht nur nahe an einen Polizisten heran, der mit Schutzhelm usw. aufwartete, sie drückte auch noch einen Kuss auf seinen Helm, was die Medien schnell als "versöhnliche Geste" bzw. "tender kiss" fehlinterpretierten und dementsprechend bewarben. Dabei hatte es Nina de Chiffre anders gemeint – sie meinte den Kuss als eine Geste der Missachtung und sie leckte sich, nachdem sie lediglich den Helm mit den Lippen berührte, kurz die Finger ab, um diese dann in den Mund des Polizisten zu stecken, was ihr jedoch misslang. Aktionen wie diese werden wegen der Gefahr der Übertragung von Krankheiten im allgemeinen als Körperverletzung angesehen.

Doch nicht die Körperverletzung ist der Vorwurf, dem sich Nina de Chiffre ausgesetzt sieht, es ist sexuelle Belästigung. Der Generalsekretär der Polizeigewerkschaft sagte deutlich, dass er den Tatbestand neben dem der Beamtenbeleidigung erfüllt sieht. "Wäre es keine Belästigung, wenn ich sie auf den Mund geküsst hätte?", diktierte er den Medienvertretern in die Mikrofone und es stellt sich die Frage, wieso hinsichtlich des Kusses auf den Helm nicht beachtet wurde, dass der Polizist ja nicht körperlich von der Demonstrantin erreicht wurde, sondern lediglich der Helm den Kuss abbekam, was doch ein Unterschied zwischen einem Kuss auf den Mund ist.

Nina de Chiffre ist es allerdings lieber, sie wird wegen ihrer Aktion verurteilt, als dass man ihren Kuss und auch den Versuch, ihre Finger in den Mund des Polizisten zu schieben, als friedlich oder gar versöhnlich oder als "tender kiss" verstanden sieht. Das Foto, das die Aktion wiedergibt, hat bei vielen den Eindruck ausgelöst, dass die Geste als Geste des Friedens gedacht war und der Polizist sie auch so sah bzw. sogar die Umarmung der Frau genoss, bevor er sie wegstieß.