Lieber Bürger, Ihre Meinung zum Thema Porno interessiert uns (nicht)

Außer Kontrolle

Der Umgang mit Emails der Bevölkerung zeigt, wie stark Anspruch und Wirklichkeit bei den Institutionen der EU auseinanderklaffen. Die Technik muss als Begründung herhalten.

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"Das Parlament ist Ihre Vertretung, denn es ist das einzige unmittelbar gewählte Organ der Europäischen Union. Auf dieser Webseite erhalten Sie einen Einblick in die Funktionsweise des Parlaments. Wir stellen Ihnen seine Befugnisse und Aufgaben vor und erläutern, wie die Mitglieder des Europäischen Parlaments ihre Arbeit organisieren. Außerdem erklären wir Ihnen, wie Sie uns erreichen können. Zu guter Letzt verschaffen wir Ihnen einen Überblick über die Ereignisse, denen das Parlament seine heutige Rolle in der EU zu verdanken hat."

So klingt es, wenn das EU-Parlament sich der Bevölkerung vorstellt. "At your Service", also "zu Ihren Diensten" lautet die entsprechende Seite und neben diversen Informationen über das Parlament erhält der geneigte Leser auch insbesondere noch Informationen darüber, wie er seine Abgeordneten erreichen kann.

"Ihnen liegt etwas auf dem Herzen? Nur zu, Sie haben das Wort. Wenden Sie sich an das Parlament, wenn Sie der Meinung sind, dass in Ihrem Land EU-Recht verletzt wird. Oder kontaktieren Sie den Europäischen Bürgerbeauftragten, falls Sie einen Mediator benötigen. Ab 2012 haben die EU-Bürger außerdem die Möglichkeit, europaweite Initiativen zu starten und mithilfe der neuen Bürgerinitiative selbst neue Gesetze zu fordern."

Wie es scheint, ist aber das Parlament zumindest teilweise nicht so begeistert davon, dass die Bevölkerung von diesen Möglichkeiten auch Gebrauch macht. Dies zeigt sich momentan daran, wie manche Parlamentarier auf Mails von der Bevölkerung reagieren.

Pornographie? Grund für seltsame Einstimmigkeiten

Begonnen hatte die "Mailaffäre", als bekannt wurde, dass das EU-Parlament sich demnächst mit einem Pornographieverbot in den Medien beschäftigen würde. Während nicht einmal klar ist, ob die Verantwortlichen überhaupt das Inernet als Medium begriffen haben, ist zumindest klar, dass das Thema Pornographie als Reizthema seine Wirkung nicht verfehlt. Der Report, der sich mit der "Eliminierung von geschlechtsspezifischen Stereotypen in der EU" befasst, hat es insofern auch erfolgreich geschafft, eine Art Gulasch aus den Themen Sexismus in der Arbeitswelt, einseitige Darstellung von Personen in der Werbung und Pornographie zu kreieren, die eine breite Zustimmung für entsprechende Regelungen zur Veränderung der Situation ermöglichen. Gerade auch das Thema Pornographie schafft seltsame Einstimmigkeiten bei Menschen, die ansonsten kaum etwas gemein haben.

So finden sich beim Thema "Pornographie ist schlimm und sollte verboten werden" die unterschiedlichsten Interessengruppen ein. Da gibt es die Religiösen, die Pornographie als Sünde ansehen; die "Das Internet macht alles kaputt"-Gruppe, die Pornographie als etwas ansieht, was erst durch die "neuen Medien" populär wurde (was jeglicher Grundlage entbehrt, schaut man sich diverse SungaLoveScene.jpg: pornographische Abbildungen aus früheren Zeiten an); da sind Kinderschützer, die Pornographie immer in Verbindung mit Kinderpornographie sehen; da sind jene, die Pornographie und Prostitution als Mittel der Frauen ansehen, die Männer (nicht nur, aber doch insbesondere) für die Vergabe von Sex auszubeuten; und da sind gerade auch die Feministinnen, die Pornographie prinzipiell als Herabwürdigung von Frauen interpretieren und sämtliche andere Formen der Pornographie ebenso negieren wie die Tatsache, dass auch Frauen sich für Pornographie begeistern können. So ist gerade beim "Kampf gegen die Pornographie" stets mit viel Unterstützung zu rechnen, wobei nicht vergessen werden sollte, dass dieser Kampf vielfach auch als Kampf gegen die freie Meinungsäußerung angesehen wird, wie es schon zu Zeiten der Gerichtsverhandlung Larry Flynts der Fall war.

Interessant ist überdies, dass sich das oben genannte Gulasch vorrangig mit Frauen befasst. Ist am Anfang noch von "gender stereotypes" die Rede, so bezieht sich ein Großteil des Reportes darauf, wie Frauen in der Werbung,. in Videos usw. dargestellt werden, während die Auseinandersetzung mit ähnlichen männlichen Stereotypen in der Werbung (wo bleiben die Männer in den Werbungen für die glücklichen Familien, in denen das Kind aufwächst? Warum sind die Männer es, die z.B. das Baumhaus bauen dürfen, nur selten aber z.B. beim Windelkauf oder dergleichen gezeigt werden?) oder die Sexualisierung von Männern zur Bewerbung von Produkten (etwa bei Luxusprodukten wie beispielsweise Parfum oder Uhren) oder in den Videos (Machismo und Co.) eher nur kurzfristig stattfindet.

Es ist also wenig verwunderlich, wenn eine Idee, Pornographie aus den Medien zu verbannen, bei der Bevölkerung sowohl auf Zustimmung als auch auf Widerstand, auf jeden Fall aber auf Interesse stößt.

Doch einige Parlamentarier scheinen entweder nicht verstehen zu wollen, dass ein kontroverses Thema auch rege Beteiligung mit sich bringt. Sie lehnen diese Beteiligung ab oder aber sie haben die Möglichkeiten der neuen Medien noch nicht begriffen.

So haben sich, wie Christian Engström von der schwedischen Piratenpartei berichtet, Parlamentarier über die Mails beschwert, die sie in Bezug auf das Thema "Pornographieverbot in den Medien" erreichten. Die IT-Abteilung des Parlamentes fühlte sich daher befleißigt, die Mails, die sich mit dem Thema befassten, nicht mehr an die Parlamentarier auszuliefern. Glaubt man Herrn Engström, so betraf dies auch diejenigen, die sich keinesfalls beschwerten, informiert wurden die Parlamentarier nicht über diese Maßnahme.

Es scheint sich keineswegs um eine einzelne Maßnahme zu handeln. Rick Falkvinge berichtet, dass zum gestrigen Weltfrauentag auch diverse Mails die Empfänger deswegen nicht erreichten, weil sie den Term "gender stereotypes" enthielten. Wie Rick Falkvinge erklärt, hat die IT-Abteilung in diesen Fällen die Mails schlicht und ergreifend als SPAM deklariert und sie daher den Empfängern vorenthalten. Er erläutert ferner, wie nunmehr versucht wird, Schadensbegrenzung zu betreiben, indem der Terminus "ban all forms of pornography in the media" aus dem Report herausgekürzt wurde, was jedoch nur Kosmetik ist, da sich der derzeitige Report auf einen früheren Bericht aus dem Jahr 1997 bezieht, der explizit wieder diesen Terminus enthält.

Ein paar Meinungen reichen

Anzunehmen ist, dass es viele Menschen gibt, die sich diverse Mailvorschläge durchlesen, sich diesen anschließen und dementsprechend auch die gleichen Formulierungen wie andere Menschen nutzen. Es ist verständlich, dass es Menschen nervt, sich x-mal durch die gleichen Mailformulierungen durchkämpfen zu müssen, doch letztendlich sind auch Petitionen nichts anderes als eine einmal formulierte Ansicht, die von anderen mitgetragen wird. Die Häufigkeit solcher Mails mit gleicher Ansicht, sofern diese Ansicht nicht aus "enlarge your penis" besteht, sollte insofern nicht mit einem "alles Spam" weggewischt werden und zu Lösch- und Filterideen führen, sondern sollte den Abgeordneten einen Überblick darüber geben, wie viele sich manchen Ansichten anschließen und diese unterstützen (möchten).

Das Verhalten der Parlamentarier wie auch das der IT-Abteilung, die entweder billige Filteralgorithmen nutzt, Fertigprodukte zur Filterung, oder die sich keine Gedanken darüber macht, was sie da eigentlich tut, wenn sie zig Mails an alle Abgeordnete nicht zustellt, nur weil sich einige über bestimmte Mails beschweren, zeigt, dass da zwischen dem Anspruch, die Stimme der Bevölkerung zu sein, und der Wirklichkeit große Gräben klaffen. Wie Netzpolitik.org berichtet, hat das EU-Parlament nunmehr mitteilen lassen, dass es zu viele Mails mit identischem Inhalt gab, weshalb ein Filter automatisch "ansprang". Das mag eine Entschuldigung sein, die viele gelten lassen, doch ist sie das tatsächlich?

Wie bereits erläutert, sind auch gleichlautende Mails nicht automatisch ein Grund dafür, diese zu ignorieren – würde diese Ansicht bzw. die Ansicht, dass bei entsprechend vielen gleichlautenden Meinungsäußerungen es legitim ist, diese auf technische Weise zu blockieren, so dass die Empfänger nicht mehr von ihnen erfahren, auf eine Situation außerhalb des Internets übertragen werden, so hieße dies, dass bei Demonstrationen nur eine gewisse Anzahl von Personen bestimmte Transparente hochhalten dürften; dass bei Petitionen keine "Ich schließe mich an"-Funktion mehr möglich sein dürfte und nicht zuletzt so gerade auch die symbolische Bedeutung von vielen gleichlautenden Meinungsäußerungen völlig außen vor bliebe.