Parodie seiner selbst

Das Grass-Gedicht über Griechenland ist keine Fälschung der Titanic - auch, wenn es durchaus eine sein hätte können

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Im April erregte der SS-Veteran Günter Grass (SPD) mit einem "Gedicht" benannten reimlosen Wortsalat die deutschen Medien, dessen Subtext die Satirezeitschrift Titanic recht treffsicher auf den Punkt brachte. Das Werk lieferte der Süddeutschen Zeitung, die es veröffentlichte, eine Menge Aufmerksamkeit, die sich bei Medien mit Online-Anteil auch in mehr Page Impressions, mehr Visits, besseren IVW-Zahlen und letztendlich höheren Werbeeinnahmen niederschlägt.

Das animierte die SZ-Redaktion (die in den letzten Wochen beim Abdruck aufmerksamkeitssteigernden Blödsinns hinter die Zeit und das Handelsblatt zurückgefallen war) offenbar dazu, den Franz Schönhuber der deutschen Literatur sein Kunststück wiederholen zu lassen und ein "Gedicht" über Griechenland zu veröffentlichen, das in seiner einfältigen Oberlehrerhaftigkeit umgehend zahlreiche Parodien provozierte.

Auch dem FAZ-Autor Volker Weidermann fiel auf, wie simpel Grass mit "leicht verschobenen Satzstellungen" und "unsinnigen Genitivkonstruktionen" Lyrik vortäuscht. Er schrieb deshalb einen Artikel, in dem er das Werk wie eine Titanic-Parodie behandelte, auf die die Süddeutsche hereingefallen war. Obwohl ein solcher Scherz bei einem Autor, dessen Kontaktdaten der Redaktion bereits aus früheren Veröffentlichungen bekannt sind, äußerst schwer zu bewerkstelligen ist (und obwohl die Anrisszeile die Scherzabsicht des FAZ-Texts deutlich machte) nahmen zahlreiche FAZ-Leser die Behauptung für bare Münze und spotteten auf Twitter und in Foren etwas voreilig über den angeblichen "Coup".

Hätten sie recht gehabt, dann hätte allerdings auch eine NDR-Lesung des "Gedichts" eine etwas aufwendige Fälschung sein müssen. Endgültige Sicherheit brachte gestern eine Stellungnahme Weidermanns. Die von ihm gestiftete Verwirrung könnte nicht nur den deutschen Feuilletons, sondern auch manchem Deutschlehrer ein Anlass sein, darüber nachzudenken, ob Grass nicht nur mehr eine Parodie seiner selbst ist – und es möglicherweise immer schon war. Vielleicht lassen sie ihre Schüler dann zukünftig lieber Wiglaf Droste lesen, der Weisheiten wie die folgende vermittelt:

Schlechte Prosa, die man willkürlich umbricht
bleibt schlechte Prosa und wird kein Gedicht.

Update:

Mittlerweile hat auch Titanic eine eigene (echte) Parodie auf "Europas Schande" online.