SPD-Abstimmung als Politshow

Gerade das Fehlen einer großen gesellschaftlichen Debatte über die Große Koalition und ihre Alternativen war die Voraussetzung für die Inszenierung der Abstimmung als Politikshow

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Erik Dietrich ist extra in die Partei eingetreten, um die große Koalition zu verhindern und hat darüber in der taz gleich einen langen Aufsatz mit Fortsetzung angekündigt. Dabei hätte sich der Neusozialdemokrat die gesamte Prozedur ersparen können. Denn das Ergebnis war absehbar. Dazu wäre bestimmt nicht das Druckpotential nötig gewesen, das führende Sozialdemokraten in den letzten Wochen einsetzen, um eine Zustimmung zu erreichen. Schließlich gab es seit Wochen Umfragen, die ein Ergebnis voraussagten, wie es nun eingetroffen ist.

Vor diesem Hintergrund waren die Berichte, die ein offenes Rennen suggerierten, eine große Show, die aber durchaus im Interesse der SPD-Verantwortlichen war. So wurde der erwünschte Druck auch noch über die Massenmeiden weiterverbreitet. Und was wurde nicht alles vorausgesagt für den Fall, dass es eine keine Mehrheit für die große Koalition gibt? Bei Neuwahlen würde die SPD möglicherweise unter die 20 Prozent fallen und die FDP mit Bravour wieder ins Parlament einziehen. Oder es käme gleich zu einer grün-schwarzen Liaison. Dass angesichts dieses Trommelfeuers doch noch ca. 22 Prozent der Mitglieder die Zustimmung verweigerten, könnte man fast als ein letztes Stück Eigenwillen interpretieren, den man in dieser Prozentzahl gar nicht erwartet hätte.

Zeichen von Demokratie?

Nach dem Ende der Prozedur werden nun die SPD und ihr Vorsitzender Sigmar Gabriel als gestärkt gesehen . Manche sehen in der Mitgliederbefragung sogar die Demokratie insgesamt gestärkt.

Dagegen klingt der Taz-Kommentator erfreulich nüchtern, wenn er feststellt, dass die SPD die Basisdemokratie nicht erfunden hat und dass von einer echten Entscheidungsfreiheit keine Rede sein kann. Schließlich hätte dann als Alternative auch nach einer Kooperation mit der Linkspartei gefragt werden müssen - und das am besten noch vor Aufnahme der Koalitionsverhandlungen. Dann hätte man tatsächlich von etwas mehr Basisbeteiligung reden können.

Allerdings würde auch eine solche Abstimmung auf eine politisch nicht zu rechtfertigende Privilegierung der Mitglieder einer Partei hinauslaufen. Dabei hat der Einfluss von Parteien gesellschaftlich insgesamt abgenommen, was man an der Mitgliederentwicklung der SPD exemplarisch zeigen kann. Die hatte in der BRD zu ihren Hochzeiten in den 1970er Jahren mehr als eine Million Mitglieder. Heute sind es bundesweit noch 475.000. In den anderen Parteien ist die Entwicklung nicht wesentlich anders.

Durch die Mitgliederbefragung, die von der SPD-Spitze von Anfang nicht als Orientierungshilfe, sondern als verbindlich angesehen wurde, bekamen diese 475.000 Mitglieder qua Parteibuch das besondere Privileg der Zustimmung oder Ablehnung einer bestimmten Regierungskonstellation. Kein Wunder, dass diese Abstimmung auch in Medien gelobt wurde, die nicht als SPD-freundlich gelten. Sie haben erkannt, dass damit dem Parteiensystem wieder neues Vertrauen eingehaucht werden soll.

Partizipation jenseits der Parteien soll gar nicht erst aufkommen

Der verstärkten Diskussion über Formen der politischen Partizipation jenseits des Parteiensystems, die vor allem von jüngeren Menschen geführt und in der diffusen schon versandeten Occupy-Bewegung ihren kurzzeitigen Ausdruck fand, soll mit Showeffekten gekontert werden.

Das war der SPD-Entscheid zumindest für die große Mehrheit der Nicht-SPD-Mitglieder. Die Medien, denen es überwiegend auch um eine Stärkung des Parteiensystems ging, spielten mit. Die SPD-Abstimmungsshow wurde als bis zum Schluss offenes Rennen inszeniert, das mit dem Eintreffen der Abstimmungsunterlagen in Berlin in seine entscheidende Phase gekommen sei. So sollte am Samstagnachmittag neben all den Quiz- und Sportsprogrammen auch dieser Abstimmung ein Unterhaltungsfaktor zugesprochen werden. Doch es ist die Frage, ob für viele die Verkündigung der Lottozahlen nicht interessanter war.

Eine gesellschaftliche Debatte oder gar Mobilisierung rund um die große Koalition war mit der SPD-Befragung nie beabsichtigt. Das war 1966 noch anders, als die erste große Koalition in der BRD auf eine neue außerparlamentarische Opposition traf, die bis in das sozialdemokratische Milieu reichte:

"Über 3000 Protesttelegramme gingen im Laufe der Woche allein in der Bonner SPD-Baracke an der Erich-Ollenhauer-Straße ein, die vom Volksmund bereits "Haus Vaterland" getauft wurde. Überall im Lande gärte es in den Gliederungen und unter Anhängern und Wählern der SPD. Man konnte nicht begreifen, dass die Sozialdemokraten nach 17 bitteren Oppositionsjahren die Fortexistenz der CDU-Herrschaft in der Bundesrepublik sichern sollten, während sie mit Hilfe der Freien Demokraten die Führung im Staate hätten übernehmen können“, hieß es damals im Spiegel.

Wären in den letzten Wochen 3000 Protesttelegramme von SPD-Mitgliedern bekannt geworden, die nicht verstehen wollten, warum die Sozialdemokraten mit der Union eine Regierung bilden will, obwohl auch ein Bündnis mit Grünen und Linken möglich gewesen wäre, hätte es bestimmt keine Abstimmung gegeben. Gerade das Fehlen einer großen gesellschaftlichen Debatte über die Große Koalition und ihre Alternativen war die Voraussetzung für die Inszenierung der Abstimmung als Politikshow. 1966 gab es keine Abstimmung, aber wesentlich mehr reale Selbstermächtigung von unten, weil es eine gesellschaftliche Debatte gab, die nicht von Parteivorständen inszeniert und gelenkt werden konnte.

Die größten Lobbyschlachten der vergangenen Jahre

In den letzten Wochen gab es größere außerparlamentarische Initiativen lediglich von einem Bündnis, das sich die Rettung der Energiewende auf die Fahnen geschrieben hat. Nach der Kritik verschiedener Umweltverbände zu urteilen, war diese Intervention wenig erfolgreich.

Im Koalitionsvertrag von SPD und Union wird eher auf die Braunkohle als auf erneuerbare Energien gesetzt. Schließlich war ein Lobbyist der Braunkohle an der Formulierung der entscheidenden Passagen beteiligt. Er ist Vizevorsitzender der Gewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie, die die große Koalition besonders begrüßte, und nahm als neugewählter SPD-Bundestagsabgeordneter an einer Arbeitsgruppe seiner Partei zum Thema Energie teil.

Er ist nur einer von bis zu 5.000 Lobbyisten, die mittlerweile in Berlin arbeiten. Dazu gehören Vertreter der Kohleibranche, der Atomkraftbetreiber und zunehmend auch der erneuerbaren Industrien. Die Organisation Lobbycontrol sieht in den Koalitionsverhandlungen der Großen Koalition eine der größten Lobbyschlachten der vergangenen Jahre.

Derweil wird in den Medien schon die nächste Politshow vorbereitet. Da wird schon aus der Kabinettsliste der neuen Regierung wie im Kaffeesatz gelesen, wer gegen wen bei den nächsten Wahlen als Spitzenkandidat antreten könnte.