Vorehelicher Sex, Unschuld und Lüge vor dem Tribunal in Lille

Wie wichtig ist die Jungfräulichkeit im Lande des Marquis de Sade?

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Sie war keine Jungfrau mehr, als sie heirateten und sie hatte ihren Mann darüber belogen. Die Eheleute muslimischen Glaubens hatten zuvor einen Ehevertrag abgeschlossen, der die Unberührtheit der Frau als Bedingung stipuliert. Zwei Jahre später wurde die Ehe nun von einem französischen Gericht in Lille annulliert.

"Und das ist in der Nähe von Euch passiert", warnte gestern die Libération ihre Leser. Und natürlich bleiben heftige Reaktionen auf den Richterspruch, der einen religiösen, altvordernen Wertekanon bestätigt, im laizistischen Land Voltaires (und nicht zu vergessen des Aufklärers Marquis de Sade) nicht aus:

"Ich schäme mich für die französische Justiz, die sich nicht das Herz gefasst, alle diese jungen Mädchen zu verteidigen.", ärgerte sich etwa die "stark beunruhigte" Philosophin Elisabeth Badinter über die Richter. Das Urteil habe den Druck auf die jungen Mädchen eher erhöht.

Und die Staatssekretärin für Frauenrechte, Valérie Létard, zeigte sich konsterniert über ein Urteil, dass zur Regression des Status der Frau führe.

Unterdessen relativierte der Vizepräsident des muslimischen Regionalrats Nord-pas-de Calais, Abdelkader Assouedj:

"Der Islam fordert nicht, dass die Ehefrau Jungfrau ist. Die Muslime können auch, wenn sie es wünschen, eine Frau heiraten, die schon geschieden ist und Mutter."

Das Urteil beziehe sich vor allem auf die Täuschung der Frau, die etwas geheim gehalten habe, die Religion sei nicht die Grundlage.

Der Fall: Die beiden Eheleute sind, so berichtet Libération, laut Anwalt des Mannes "keine Extremisten". Als sie sich kennenlernten, sei sie Studentin gewesen und wurde ihm, wie der Richter bemerkt, als "jungfräulich und keusch vorgestellt". Eine Behauptung, die sie dem Ingenieur gegenüber bestätigt. Die Hochzeit wird am 8. Juli 2006 comme il faut mit großem Pomp gefeiert, bis sich herausstellt, dass der Ehemann kein blutbeflecktes Bettlaken zum Vorzeigen hat, Folge: Die Frau wird zu ihrer Familie zurückgeschickt und "tout le monde" der Familie des Ehemanns fühlt sich entehrt. Für andere besteht der Skandal darin, dass der Richterspruch einen Kult bestätigt, der mit den Lebensmaximen einer modernen Kulturnation im Widerspruch steht.

Aus Sicht der Rechtsprechung sind da zunächst andere Kategorien wichtig, wie sich in der Argumentation eines juristischen Kommentars zum Urteil zeigt, der sich in der Fachzeitschrift Recueil Dalloz vom 22 Mai findet und von der Zeitung Libération in wesentlichen Zügen wiedergegeben wird.

Demnach hat der Ehemann eine bedingte Ungültigkeit ("nullité relative") der Ehe beantragt, der sich auf den Artikel 180 des "französischen BGB" (code civil)stützt, der festlegt, dass ein Ehepartner die Ungültigkeit der Ehe verlangen kann, wenn es einen Irrtum über eine Person oder über eine wichtige Eigenschaften der Person (qualités essentielles) gibt. Da die Ehefrau zugegeben hatte, dass sie ihren Mann getäuscht habe, aus Angst, dass es dann nicht zur Heirat komme, musste um den Nachweis der Irreführung nicht lange gestritten werden. Umso mehr wird jetzt über die Auslegung des Richterspruchs gestritten.

Der Ehemann stellte den Irrtum, dem er unterlag, als Anlass für grundlegende Zweifel an der Aufrichtigkeit dar, er habe keine Basis für eine solide Gemeinschaft mehr gesehen. Folglich wollte er nicht nur die Trennung, sondern mehr: den Richterspruch, der die Hochzeit auslöscht. "Als ob es sie niemals gegeben hätte". Eine bloße Scheidung hätte ihn nicht zufriedengestellt, so sein Anwalt.

Die Zeitung Libération legt das so aus: Die Richter geben ihm recht. Sie erklären, dass die Ehe unter dem entscheidenden Einfluss eines objektiven Irrtums stand und dass dieser Irrtum den Kern der eheliche Zustimmung der beiden bildete. Demnach, so Libération, war die Jungfräulichkeit doch "entscheidend" für die Eheschließung. Womit die Richter letztendlich auch denen recht geben, die ihr diesen Rang einräumen:

"Ils ont estimé que le mariage avait été conclu «sous l’emprise d’une erreur objective» mais aussi qu’une telle erreur était «déterminante dans le consentement». En l’espèce, à leurs yeux, la virginité l’était."

In der Darstellung von Le Monde wird die Sicht des Staatsanwalts wiedergegeben, der den Akzent weg von der Jungfräulichkeit - " ein Problem, auf die sich die Debatte nur ein bisschen konzentrierte" - auf die Lüge rückte:

"Die Frage war nicht die Jungfräulichkeit, sondern die Verbindung, welche die Frau zuvor hatte und die sie verschwiegen hat. Es war die Lüge, die den Ausschlag für den Richterspruch gegeben hat."

Und die Konsequenzen des Richterspruchs aus Lille, fragt man jetzt in Frankreich: Dient er künftig muslimischen Mannern oder auch Angehörigen anderer Religionen, die ebenfalls zum Warten verpflichten, als wirksames Drohmittel? Oder wird er die Wartesäale jener Ärzte füllen, die künstliche Hymen einsetzen?

Die Zeitung Libération äußert schließlich auch eine optimistische Annahme: Dass sich möglicherweise junge Mädchen über diesen Spruch aus Zwangsehen befreien könnten..