(Un-)Sicherheitslage und Politik

Verletzte und Verlassene auf den Feldern Afghanistans - Dritter von fünf Teilen

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Teil 2: Taktische Erfolge der Koalition, aber die Zivilbevölkerung leidet am meisten

Nicht nur die Verschärfung des militärischen Konfliktes stellt eine Herausforderung für die Zukunft Afghanistans dar, das Land hat innenpolitisch mit vier Grundproblemen zu kämpfen: Erstens sind die afghanische Polizei und die Armee weitestgehend ineffizient; zweitens sind die Wiederaufbaumaßnahmen nach zehn Jahren - gelinde gesagt - nicht besonders erfolgreich gewesen; drittens unterminiert die Drogenökonomie in höchstem Maße den Aufbau von legalen Strukturen; viertens sind die Institutionen des Landes durch und durch korrupt, was die Entstehung eines effizienten Verwaltungsapparats unmöglich macht.

In einem Krisenland ist eine der primären Säulen eines erfolgreichen Rechtsstaatsaufbau die Aufstellung regulärer Sicherheitskräfte, die in der Lage sind, den Schutz der Menschen und der Institutionen des Landes zu gewährleisten, ohne die Menschenrechte zu beschneiden. Dem ist nach zehn Jahren Aufbau in Afghanistan bei weitem nicht so.

Auszubildende der Afghanischen Nationalarmee (2002). Bild: U.S. Department of Defense

Die Disziplinlosigkeit von Polizei und Armee ist berühmt-berüchtigt und so verbreitet, dass die Funktionstüchtigkeit des Sicherheitsapparats einfach nicht gegeben ist. Zum Beispiel wird Dieselkraftstoff von Armeeangehörigen regelmäßig aus den Tanks der Einsatzfahrzeuge gepumpt und auf dem Schwarzmarkt wiederverkauft.

Ein anderes Beispiel: Die Fahnenflucht ist enorm hoch. Von den 25.000 Mann, die zwischen 2003 und 2005 rekrutiert wurden, sind ca. 18.000 desertiert. Auch wenn die Situation sich nach und nach verbessert hat, geht ein Audit von 2008 davon aus, dass von den 32.000 Soldaten der Kampfeinheiten circa 6.000 (das heißt immerhin 19%) fahnenflüchtig sind. 2009 stellte die afghanische Armee 90.000 Mann und die Polizei 80.000 Mann auf; heute sind es offiziell respektive 172.000 und 134.000 Mann, aber diese Angaben sagen nichts über die Verfügbarkeit und die Einsatzbereitschaft dieser Einheiten.

Schlimmer noch - es gibt starke Hinweise dafür, dass immer mehr Minderjährige rekrutiert werden, und dass diese mit dem Sold von 140 Euro, die zum Beispiel Polizisten erhalten, ihre Familien finanziell unterstützen. Außerdem hat die forcierte Rekrutierung von zahlreichen Soldaten und Polizisten in den letzten zwei Jahren natürlich ihre Schattenseiten. Laut einer Untersuchung von Oxfam, die im Mai 2011 vorgestellt wurde, haben circa 40.000 Polizisten so gut wie gar keine Ausbildung, und die standardmäßige Dauer der Ausbildungsmaßnahmen wurde von acht auf sechs Wochen verkürzt.

Dabei werde laut deutschen Ausbildern die Hälfte der Ausbildungszeit für die Übersetzung in Pashto oder Dari aufgewendet, so dass ein vom Spiegel zitierter deutscher Polizist 2010 hoffnungslos urteilte:

Die Schaffung eines Rechtsstaates in Afghanistan ist eine Illusion.

Demzufolge ist es nicht verwunderlich, dass die Verbrechen und Untaten, welche die Sicherheitskräfte der Bevölkerung zumuten, besonders breit gefächert und häufig sind. Die UNO publizierte beispielsweise in Oktober 2011 eine Untersuchung, wonach Folter zur taktischen Nachrichtengewinnung von den afghanischen Streitkräften "systematisch angewandt wird"1.

Außerdem liegt die Analphabetenquote innerhalb der Sicherheitskräfte immer noch bei über 50 Prozent. Die Analphabetenquote der neuen Rekruten liegt sogar bei 86 Prozent. Das bedeutet, dass eine schnelle und effiziente Ausbildung der Einsatzkräfte ausgeschlossen ist - möglicherweise auf Jahre hinaus. Denn, wenn Ausweise nicht gelesen werden können, können Sicherheitsprüfungen auch kaum erfolgen.

Diesem desolaten Zustand steht eine amerikanische Studie gegenüber, wonach die afghanischen Sicherheitskräfte erst dann ihre Aufgaben meistern können, wenn sie über 250.000 einsatzfähige Soldaten und 100.000 einsatzfähige Polizisten verfügen2. Aber die angestrebte Aufstockung und Effizienzsteigerung der afghanischen Sicherheitskräfte sind wiederum mit Kosten verbunden. Strategen der amerikanischen Regierung haben 2009 ausgerechnet, dass bis 2015/2016 zwischen 10 und 20 Milliarden Dollar für diese Aufgabe notwendig sein dürften.

Rekruten der Afghanische Nationalarmee (2011). Bild: U.S. Navy

Demzufolge ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass die afghanischen Streitkräfte nach dem geplanten Abzug der Koalitionstruppen 2014 in der Lage sein werden, die Sicherheit des Landes zu garantieren - insbesondere wenn Flugzeuge und Hubschrauber der Koalition abgezogen werden, da die afghanische Luftwaffe sich noch in der frühen Aufbauphase befindet und nur einige wenige einsatzfähige Kampf- und Transporthubschrauber samt Transportflugzeuge vorweisen kann3.

Konkret heißt das, dass der Westen - willens oder nicht - gezwungen sein wird, einzugreifen, um ein gewisses Niveau an Einsatzfähigkeit und -effizienz bei den afghanischen Streitkräften zu garantieren, falls eine gewisse Stabilität und Kontinuität gewährleistet werden soll. Dies wird nur dann geschehen können, wenn erhebliche Summen transferiert werden, und wenn das Leitungs- und Ausbildungspersonal gestellt wird. Letzteres wird entweder mithilfe von "Beratern" aus den westlichen Armeen, die der afghanischen Regierung für eine gewisse Zeit zur Verfügung gestellt werden oder mithilfe von privaten Sicherheitsdiensten erfolgen.

L-39 Albatros Kampfflugzeuge des Afghan National Air Corps. Bild: U.S. Department of Defense

Diese verzwickte Situation ist sowohl ein ernst zu nehmender Ausdruck der Instabilität der afghanischen Institutionen wie auch ein deutlicher Indikator für die begrenzte Fähigkeit der Regierung, das Land zu verwalten. Bemerkenswert ist, dass die Schwächen der Institutionen und der Kabuler Regierung weder durch die Wahlen von 2004 noch durch die von 2009 aufgehoben werden konnten - ganz im Gegenteil: Eine Verfestigung des Rechtsstaats durch die Wahlen von 2009 hat nicht stattgefunden.

Enttäuschte Hoffungen

Schon die ersten demokratischen Wahlen des Landes im Jahr 2004 wurden von auffallend vielen Regelverstößen begleitet. Demgegenüber kann aber eingeräumt werden, dass die Organisierung dieser Wahl auch eine Meisterleistung der internationalen Gemeinschaft in einer sehr schwierigen Situation und in einem praktisch zerstörten Land ohne nennenswerte Infrastruktur4 war. Somit konnten die Wahlen von 2004 als Erfolg verbucht werden, denn damit konnte ein starkes und symbolisches Signal, also ein Gründungsakt des neuen Staates, statuiert werden. Die Abkehr des Unrechtsstaats und die Einweihung einer neuen Ära durfte trotzt aller Unregelmäßigkeiten positiv bewertet werden.

Wenn die Wahlen von 2004 noch mit großen Hoffnungen verknüpft wurden, vor allem mit der Hoffnung darauf, dass sich die politische Lage nach und nach verbessern würde, wurde diese Hoffnung 2009 bitter enttäuscht. 2009 sind die Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschaftswahlen flächendeckend und die Wahlbeteiligung insgesamt niedriger als 2004. Von den laut NATO 15,6 Million registrierten Wählern entpuppten sich unzählige als Geisterwähler, etwa weil Wählerlisten manipuliert oder Wahlberechtigungsausweise meistbietend angeboten wurden - ganz abgesehen von anderen Manipulationen, die während der Vorbereitungen und am Stichtag unternommen wurden5.

Laut Wahlbeobachter der EU sollen insgesamt 25% der abgegebenen Stimmen ungültig oder zumindest verdächtig gewesen sein. Die Wahlkontrollkommission Electoral Complaints Commission der UNO hat in ihrem endgültigen Bericht nicht weniger als 1,3 Millionen von insgesamt 5,9 Millionen abgegebenen Stimmen für null und nichtig erklärt. Die Anzahl der Stimmen, die an den wiedergewählten Präsidenten Hamid Karzai gingen, wurden dementsprechend von 3,1 auf 2,1 Millionen nach unten korrigiert.

Wahlplakat für Hamid Karzai (2009)

Eine in diesem Zusammenhang sehr problematische Stichwahl wurde nur deswegen umgangen, weil der Herausforderer des Paschtunen Hamid Karzai, Abdullah Abdullah - ein Paschtune und Tadschike, Außenminister des Landes von 2001 bis 2006 - sich aufgrund der, seiner Meinung nach offensichtliche Befangenheit der Wahlkommission und der deswegen zu erwartenden Unregelmäßigkeiten zurückzog. Ein Blutbad nach Verkündung der Ergebnisse gab es zwar nicht, aber Amnesty International meldete für die Zeit unmittelbar vor und nach der Wahl die Beobachtung der schlimmsten Gewaltwelle gegen Zivilisten seit 2002.

Abdullah Abdullah. Bild: U.S. Government

Für wen die Bevölkerung bei dieser Wahl stimmte, ihr Wunschkandidat, wird nun für immer verborgen bleiben, denn das Ergebnis, wie es verkündet und bestätigt wurde, kann nur als Resultat einer über das Gesetz hinausgehende Verhandlung und Gewichtung der innenpolitischen und geopolitischen Machtfaktoren durch nationale und internationale Interessengemeinschaften angesehen werden6.

Ein solcher Ausgang kann also nur sehr enttäuschend sein für Wahlen, die immerhin 488,6 Millionen Dollar gekostet haben7. Aber dieses Ergebnis ist vor allem deswegen problematisch, weil es die Frage aufwirft, wie es überhaupt möglich sein kann, dem afghanischen Volk die Vorzüge einer Demokratie nach westlichem Muster schmackhaft zu machen, wenn die Vertreter dieser Demokratien (die UNO und die ISAF-Länder) offenkundig gefälschte Wahlen akzeptieren? Erschwerend kommt hinzu, dass die Parlamentswahlen, die 2010 stattfanden, ebenso unter generellem Fälschungsverdacht stehen.

Rückbesinnung auf " traditionelle Werte der Gesellschaft"

Abgesehen von offensichtlichen geopolitischen Zwängen, die Staaten zumindest kurzfristig dazu bringen können, die Ergebnisse einer gefälschten Wahl zu akzeptieren, um Schlimmeres zu verhindern, können so gravierende Wahlfälschungen, wie sie 2009 und 2010 in Afghanistan stattfanden, mittelfristig und langfristig das Volk nur dazu animieren, sich auf die traditionellen Werte der Gesellschaft zurück zu besinnen. Das sind in Afghanistan lokale und tribale Selbstverwaltungsstrukturen. Doch genau diese zu erwartende Konsequenz läuft dem Hauptziel der Koalition - dem Aufbau eines starken und zentralisierten Rechtsstaats - zuwider.

In einem ungewohnt ehrlichen Interview, das Hamid Karzai 2009 der französischen Tageszeitung Le Figaro gab, erklärte der amtierende Präsident die Besonderheiten der Mehrheitsfindung in seinem Land:

Afghanistan ist eine traditionelle, stammesgeprägte Gesellschaft. Die Menschen wählen entsprechend ihrer Gruppenzugehörigkeit [...]. 2004 konnte ich im ersten Wahlgang 54,5% erreichen dank der Unterstützung vom Süden des Landes, von Kabul und Herat. Dieses Mal kann ich mir dazu der Unterstützung der Usbeken und eines Großteils der Hazara und Tadschik sicher sein. Ich werde erwartungsgemäß mein Ergebnis also noch verbessern können.

In diesem Kontext und aufgrund der Turbulenzen seiner Wiederwahl, verwundert es nicht, dass der Präsident in einem Spiegel-Interview vom Dezember 2011 erklärt:

Eine Demokratie nach rein westlichem Muster wird es hier nicht geben. Unsere Demokratie wird von der Tradition und von uns Afghanen bestimmt, nicht vom Westen.

De facto gibt es in Afghanistan eine Art Schattenregierung, parallel zu den gewählten Institutionen, dieLoya Jirga8, oder zu deutsch "die große Versammlung", die zwar auf eine tiefe traditionelle Verankerung zurückblicken kann, die aber faktisch in Konkurrenz mit dem Parlament steht und den Prozess der Rechtsstaatsverfestigung unterminiert.

Parallelstrukturen

Es mag für westliche Politiker ungewohnt klingen aber diese Parallelstruktur ist ernst zu nehmen. Beispielsweise bewirkte Hamid Karzai, dass die Entscheidung der strategischen Allianz mit den Amerikanern nicht vom Parlament getroffen und verkündet wurde, sondern von einer ad hoc einberufenen und vom 16. bis 19. November 2011 tagenden Loya Jirga. Die 2.000 Mitglieder dieser Loya Jirga wurden nicht gewählt9, sondern vom Präsidenten selbst ernannt.

Dieses Beispiel versinnbildlicht in aller Deutlichkeit die Interessenkonflikte, die aus der Duplikation der repräsentativen Gremien entstehen kann, denn die Loya Jirga wird vom Parlament als illegal verworfen, obwohl gleichzeitig 171 der 249 Abgeordneten dieses Parlaments ihre Teilnahme verkündet hatten. Für Hamid Karzai jedoch war die Konstituierung der Loya Jirga, mit ihren von ihm ernannten Mitgliedern, strategisch wichtig.

Denn dadurch wurde es ihm möglich, eine gewisse Legitimität zu erzeugen und eine Entscheidung am Parlament vorbei herbeizuführen - und zwar in einer Sache, in der Hamid Karzai der erste Nutznießer sein dürfte, denn die strategische Allianz mit den Amerikanern garantiert mindestens die Erhaltung des Status Quo und sichert somit die persönliche Macht des amtierenden Präsidenten ab, zumal die Ratifizierung und somit das Inkrafttreten nun von seiner Unterschrift abhängt.

Delegierte der Loya Jirga. Bild: United States federal Government

Ein weiterer, besonders beunruhigender Punkt für die politische Zukunft Afghanistans steht im direkten Zusammenhang mit dem Abzugsdatum der Koalitionstruppen: 2014, im Jahr des geplanten Abzugs sollen die nächsten Präsidentschaftswahlen stattfinden, welche für unvermeidbare und starke Spannungen sorgen dürften, wenn man einen kurzen Rückblick in die Vergangenheit wagt.

Angesichts der "Kontinuitätsunsicherheit" ist es nämlich fraglich, ob die aktuelle Aufstandsbekämpfungsstrategie (COIN) der Koalition, die dem Motto "Säubern - Halten - Aufbauen" (Clear-Hold-Build) folgt und sich darauf stützt, dass "Geld als Waffensystem" eingesetzt wird, zum Erfolg führen kann. Denn die zivil-militärische Zusammenarbeit (Civil Military Cooperation, CIMIC), worauf die ISAF-Doktrin baut, dürfte mit zunehmender Unsicherheit über den Ausgang des Konflikts deutlich erschwert werden. Die neutral gesinnte Bevölkerung wird sich kurz vor einem bestehenden Abzug keinesfalls in Gefahr bringen und Partei gegen die Aufständischen ergreifen wollen, da eben diese Aufständischen möglicherweise bald wieder an die Macht sein könnten.

Militärisch gesehen, heißt das aber auch, dass je näher das Abzugsdatum rückt, die taktische Nachrichtengewinnung von menschlichen Quellen (Human Intelligence, HUMINT) umso schwieriger wird. Dies wiederum dürfte dazu führen, dass die allgemeine Effizienz der Aufstandsbekämpfung dementsprechend nach und nach sinken wird.

Die Antwort auf zwei entscheidende Fragen bleibt also weiterhin abzuwarten: Werden die Präsidentschaftswahlen 2014 überhaupt stattfinden können und, wenn ja, wird das Land von einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs verschont bleiben?

Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist, dass laut afghanischer Verfassung Hamid Karzai für ein drittes Mandat nicht kandidieren darf. Anfang Dezember 2012 zitiert eine Boulevardzeitung jedoch einen geheimen Bericht des Bundesnachrichtendienstes, wonach Hamid Karzai "eine politische Neugestaltung der afghanischen Zentralregierung [plane, um - Einf. d.A.] nicht von der Macht abtreten zu müssen".

Teil 4: Die Innenfeinde Afghanistans: Kriminalität, Korruption und bittere Armut