"Weniger Sex als Gender"

Interview mit Stefan Volk über Skandalfilme

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In seinem Buch Skandalfilme. Cineastische Aufreger gestern und heute zeichnet Stefan Volk die Entwicklung des Skandalfilms am Beispiel von über 100 Spielfilmen von Anders als die Anderen (1919) über Salò oder die 120 Tage von Sodom (1975) und Idioten (1998) bis zu Tal der Wölfe (2006) nach und bettet diese nicht nur in die jeweilige Rezensionsgeschichte, sondern auch in die gesellschaftliche, kulturelle und politische Entwicklung ein. Dabei lässt sich ausgezeichnet nachvollziehen, wie sich in den letzten hundert Jahren Sitte und Moral mit der Kultur verändert haben.

Herr Volk, was macht einen Film zum Skandalfilm?

Stefan Volk: Die öffentliche Reaktion, die er auslöst. Ein Film wird dann zum Skandal, wenn er möglichst viele Leute derart verärgert, dass sie gegen den Film protestieren. Das gelingt ihm natürlich nur, wenn er provoziert und gesellschaftliche Tabus überschreitet. Der Tabubruch alleine genügt aber nicht, sondern er muss auch von einer breiten Öffentlichkeit bemerkt und kritisiert werden. Deshalb lösen Undergroundfilme, so verstörend, brutal und tabubrechend sie sein mögen, in der Regel auch keine Skandale aus.

Der Skandal als soziales Phänomen ist also nicht unmittelbar im Inhalt eines Filmes verankert. Vielmehr entsteht er erst aus der Wechselwirkung zwischen einem tabubrechenden Werk und einem Publikum, das dagegen Sturm läuft. Das können dann Journalisten sein, die Feuilletondebatten eröffnen, Politiker, die Verbote fordern, Pfarrer, die von Kirchenkanzeln zum Boykott aufrufen, Leute, die vor Kinos demonstrieren, Mahnwachen abhalten oder auch militant gegen einen Film vorgehen, indem sie Kinosäle stürmen, Farbeier auf Leinwände schmeißen, auf Sitze pinkeln, Stinkbomben werfen. Entscheidend ist in jedem Fall, dass nicht ein Einzelner oder eine Einzelne sich im stillen Kämmerlein ärgert, sondern dass der Film eine gesellschaftliche Kontroverse entfacht.

"Frauen stießen viel schneller an Grenzen als Männer"

Skandalfilme erfordern deshalb auch ein Mindestmaß an Kunst- und Meinungsfreiheit. In totalitären Gesellschaften, in denen Zensur und Verbote Tabuverstöße und kontroverse Debatten verhindern, gibt es in der Regel auch keine Skandalfilme. In Ausnahmefällen, wie etwa bei Frank Beyers Spur der Steine von 1966, dokumentiert der - hier von der Staatspartei inszenierte - Skandal letztlich nur das Scheitern der Vorzensur.

Wie wichtig sind bei diesen Filmen die Themen Sexualität, Gewalt und Religion und wie wurden diese in den Filmen dargestellt?

Stefan Volk: Nimmt man vielleicht noch "Politik" im weiteren Sinne hinzu, sind das sicher die Themen, die in der Kinogeschichte am häufigsten Skandale entfachten. Natürlich haben auf dem Gebiet der Sexualität Darstellungen, die als zu freizügig empfunden wurden, immer wieder für Wirbel gesorgt. Man denke nur an die berüchtigte Nacktbadeszene von Hedy Lamarr in "Ekstase" von 1933. Letztlich aber ging es meistens gar nicht so sehr darum, wie viel Haut gezeigt wurde, sondern vielmehr um das geschlechtliche Rollenbild, das die Filme vermittelten. Wenn man so mag also weniger um "Sex" als um "Gender". Frauen stießen da viel schneller an Grenzen als Männer.

Hedy Lamarr in "Ekstase"

Gleichgeschlechtliche Liebe

Das große filmhistorische Tabu in der männlichen Sexualität war die Darstellung gleichgeschlechtlicher Liebe etwa in Richard Oswalds Anders als die Andern (1919), Rosa von Praunheims "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" (1971) oder Wolfgang Petersens "Die Konsequenz" (1977). Bei Frauen aber war häufig das sexuelle Lustempfinden an sich schon suspekt. Filme, in denen die weiblichen Hauptfiguren allzu forsch auftraten, als Ehebrecherinnen oder Prostituierte nicht verdammt wurden, waren daher ein Affront. Hedy Lamarr in "Ekstase", Harriet Andersson in Ingmar Bergmans Die Zeit mit Monika (1953) und natürlich Hildegard Knef in Die Sünderin (1951) verkörperten solche "unanständigen" Frauen.

Kalkulierter Tabubruch

Im Bereich der Gewalt ist das übrigens ganz ähnlich. Auch hier geht es weniger um die Explizität der Darstellung als um die moralische Rechtfertigung der Gewalt. Solange die gezeigte Gewalt als legitim vermittelt werden kann, löst sie auch keinen Skandal aus. Unruhe entsteht, wenn diese Legitimation fehlt, beziehungsweise fragwürdig erscheint, wie etwa bei den "Dirty Harry"-Filmen, denen man vorwarf, sie propagierten Selbstjustiz. Oftmals waren es aber auch gerade Filme, die den Anspruch erhoben, sich kritisch mit Gewaltdarstellungen auseinanderzusetzen und die mediale Gewaltdarstellungen ihrer moralischen Bemäntelung berauben wollten, die sich dann ihrerseits dem Vorwurf der "Gewaltverherrlichung" ausgesetzt sahen. Ich denke da beispielsweise an Oliver Stones "Natural Born Killers" (1994) oder Michael Hanekes Funny Games (1997). Die Provokation war hier gewissermaßen Prinzip, ein Teil des künstlerischen Konzeptes. Ob das im Einzelfall dann immer aufging oder nicht, ist eine andere Frage.

Funny Games. Bild: Concorde

Religion

Etwas anders sieht es beim Thema "Religion" aus. Selbstverständlich propagieren Religionen stets auch moralische Verhaltensmuster, die sie im Zweifel auch zu verteidigen versuchen. Es ist ja kein Zufall, dass es in Deutschland immer wieder Christen waren, die gegen angeblich unmoralische und unsittliche Filme zu Felde zogen. Darüber hinaus aber fungieren Religionen im Prinzip ja selbst als Medien, als Beschreibungssysteme von Wirklichkeit. Film und Religion treffen sich damit gewissermaßen auf einer Ebene. Heilig ist Religionen aber nicht nur das Bezeichnete, sondern auch die Bezeichnung, der Signifikant an sich: das Ritual, die Ikone. Also nicht nur, wer wie Martin Scorsese in Die letzte Versuchung Christi (1988) die Geschichte Jesu anders erzählt als es die christliche Kirche tut, sondern auch, wer christliche Symbole der Lächerlichkeit preisgibt, wie es Herbert Achternbusch in "Das Gespenst" (1982) getan hat, attackiert die Kirche in ihrem unmittelbaren Wesenskern. Das macht die besondere Sprengkraft blasphemischer Darstellungen aus.

Kann man anhand der Historie "Skandalfilms" von 1919 bis 2006 ablesen, welche Entwicklung die Gesellschaft genommen hat?

Stefan Volk: Auf alle Fälle. Es ist kein Zufall, dass ein Film wie Willi Forsts "Die Sünderin", der sich 1951 zum größten Skandalfilm der alten Bundesrepublik entwickelte, von der FSK mittlerweile ab 12 Jahren freigegeben wurde und auf die meisten Zuschauern heute geradezu langweilig harmlos wirkt. Themen wie Prostitution, Selbstmord und Sterbehilfe, die damals die Gemüter erhitzen, werden mittlerweile sehr viel differenzierter behandelt. Und dass sich Leute in Deutschland einmal über Knefs nackten Busen ereiferten, kann man sich sowieso kaum noch vorstellen. Es ist also nicht allzu gewagt, aus der Historie des "Skandalfilms" zu folgern, dass die westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten tendenziell liberaler und emanzipierter geworden sind.

"Enttabuisierung und Tabuisierung gehen oftmals Hand in Hand"

Allerdings darf man sich diese Entwicklung nicht als eine rein lineare vorstellen. Adrian Lynes "Lolita" (1997), der in den USA lange keinen Verleih fand, hätte zehn Jahre früher kaum einen vergleichbaren Skandal ausgelöst. Durch die Verbreitung von Kinderpornografie im Internet war die US-Gesellschaft in den 90er Jahren aber für alles, was die Sexualität Minderjähriger berührte, hochgradig sensibilisiert. Außerdem gehen Enttabuisierung und Tabuisierung oftmals Hand in Hand. Oder vielleicht anders formuliert: es sind häufig zwei Seiten derselben Medaille. Wenn früher in Filmen Frauen für Skandale sorgten, die sich nicht unterordneten, wären es heute eher Frauen, die sich unterordnen. Bei Lars von Triers "Antichrist" (2009) drehte sich die Kontroverse entsprechend um die Frage, ob der Film eine frauenfeindliche Botschaft vermittle oder nicht.

Antichrist. Bild: MFA

Nimmt man dann die gesamte Filmgeschichte in den Blick, ergibt sich noch mal ein verändertes Bild. In der Weimarer Republik etwa konnten sich manche Filme mehr Freiheiten herausnehmen als später in der Nachkriegszeit. Man muss also sehr genau hinschauen und sich fragen, welchen Zeitraum untersuche ich und welche Gesellschaft. Dann lassen sich aus der Historie des "Skandalfilms" zwangsläufig soziale Entwicklungen ableiten, da der "Skandal" ja ein gesellschaftliches Phänomen darstellt. Insbesondere der Verlauf des Skandals ist ein Indikator dafür, welche Tabus in einer Gesellschaft jeweils gelten bzw. ins Wanken geraten.

Sie behandeln in ihrem Buch sowohl Filme mit künstlerischem Anspruch wie auch kommerzielle Filme, die in ihrer Zeit Entrüstungsstürme ausgelöst haben. Was sind die Unterschiede und existieren Gemeinsamkeiten?

Stefan Volk: Die Gemeinsamkeiten dominieren sogar. Wenn man einen Film dahingehend untersucht, welche Wirkung er in einer Gesellschaft entfaltet, spielt es nur eine untergeordnete Rolle, welchen cineastischen Wert man ihm beimisst. Auch ob sich die Provokation aus einer künstlerischen Notwendigkeit ergibt oder Werbekalkül ist, bleibt da zweitrangig. Es ist allerdings schon bemerkenswert, wie viele Skandalfilme von renommierten Regisseuren wie Buñuel, Bergman, Pasolini, Scorsese, Haneke oder auch von Trier inszeniert wurden.

Das liegt zum einen wohl daran, dass zwischen einer bestimmten Auffassung von Kunst und Skandal, zwischen formaler und inhaltlicher Provokation eine Art innerer Zusammenhang besteht. Offensichtlich ist das bei den surrealistischen Filmen Buñuels, die den Skandal quasi zum Programm hatten. Zum anderen trugen die prominenten Namen aber auch dazu bei, dass unbequeme Filme überhaupt öffentlich wahrgenommen wurden. Und noch etwas anderes kommt hinzu. Skandalfilme bewegen sich grundsätzlich im Niemandsland zwischen moralischem und juristischem Verbot. Ein wesentliches Kriterium für die Kinofreigabe war daher oftmals der Kunstvorbehalt, der Kunstwert eines Filmes. Immer wieder wurde im Laufe der Skandalfilmgeschichte die Frage gestellt, ob es sich bei einem Film um Kunst oder Pornografie handele. Wenn ein Film wie Das Schweigen (1963) dann von einem international anerkannten Regisseur wie Ingmar Bergman inszeniert wurde, war das natürlich ein gewichtiges Argument.

Wie ist die Interpretation dieser Filme heutzutage? Gibt es überhaupt Streifen, die "Skandalfilme" geblieben sind?

Stefan Volk: Es war historisch ja nicht so, dass Filme zu Skandalen wurden, weil sie willkürlich irgendwelche Tabus ins Visier nahmen. Skandalfilme haken vielmehr immer dort ein, wo es in einer Gesellschaft ohnehin rumort und zumindest unterschwellig etwas in Bewegung geraten ist. Im Rückblick führte die gesellschaftliche Entwicklung oftmals dazu, dass Filme im Laufe der Zeit ihr Skandalpotential verloren. Das ist aber nicht zwingend.

Die nationalistischen Fridericus-Rex-Filme aus der Weimarer Republik wären heute sicher noch immer - oder wieder - heftig umstritten, aber sie finden kein Publikum mehr. Gegen Griffith’ "Birth of a Nation" haben 1915 Tausende afro-amerikanische Bürgerrechtler demonstriert, weil sie ihn als rassistisch empfanden. Als er dann 1992 in das "National Film Registry" der USA aufgenommen wurde, löste das erneut vehemente Proteste aus. Bis heute wird der Film höchstkontrovers diskutiert. Oder nehmen Sie Pasolinis Salò oder die 120 Tage von Sodom: der ist in Deutschland bis heute indiziert, darf also weder öffentlich beworben noch vorgeführt werden. Wenn ein vergleichbarer Film heute eine große Öffentlichkeit erreichen könnte, wäre er wahrscheinlich immer noch für einen Skandal gut.

Salò oder die 120 Tage von Sodom

Heutzutage gibt es in einer gewöhnlichen Bad-Taste-Teenager-Komödie aus den USA innerhalb neunzig Minuten in Gestalt von derben Geschmacklosigkeiten so viele Tabubrüche wie seinerzeit in sechzig Jahren Filmgeschichte nicht. Leben wir also in einer Epoche, die dem Skandalfilm nicht besonders gewogen ist?

Stefan Volk: Ich glaube nicht, dass in diesen Komödien Tabus wirklich gebrochen werden. Zumindest keine, die heute noch Gültigkeit haben. Eine Geschmacklosigkeit bedeutet ja nicht unbedingt einen Tabubruch. Dass in solchen Filmen Dinge gezeigt werden, die man früher im Kino nicht hätte zeigen können, ohne dass es einen moralischen Aufschrei gegeben hätte, signalisiert zunächst mal nichts anderes als einen gesellschaftlichen Wandel. Nur weil einige Themen, die früher skandalträchtig waren, es heute vielleicht nicht mehr sind, lässt sich daraus nicht schließen, dass Filme heute grundsätzlich keine Skandale mehr auslösen können.

"Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen"

Trotzdem kann man schon beobachten, dass das Kino heute weniger Aufregung verursacht, als das noch in der Nachkriegszeit der Fall war. Ich denke, das hat mehrere Gründe. Zum einen sind die westlichen Gesellschaften pluralistischer geworden, was wesentlich mit dem Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen, aber auch christlicher Werte zusammenhängt. Die Kirchen zählten lange zu den Hauptakteuren auf der Bühne der Kinoskandale. Zum anderen hat auch das Kino durch die ungeheure Medialisierung der Gesellschaft an Wirkungsmacht verloren. Angesichts der allgemeinen medialen Reizüberflutung kommt einzelnen Filmen längst nicht mehr so viel Aufmerksamkeit zu, wie das vielleicht noch in den 50er Jahren war.

"Statt liberalen würden heute eher reaktionäre Filme als skandalös empfunden"

Gleichzeitig reagieren die Zuschauer heute, glaube ich, auch gelassener auf das Geschehen auf der Leinwand. Eben, weil sie es nicht mehr ganz so wichtig nehmen, tolerieren sie dort Dinge, die sie im wirklichen Leben nicht dulden würden. Wahrscheinlich ist es auch Ausdruck einer gesteigerten Medienkompetenz, dass Fiktion und Wirklichkeit heute nicht mehr nach denselben moralischen Maßstäben beurteilt werden. Verkürzt könnte man sagen, der Bedeutungsschwund von Kirche und Kino hat dazu geführt, dass es heute weniger Filmskandale gibt als früher. Außerdem hat sich in einigen Bereichen die Stoßrichtung einer möglichen Provokation im Laufe der Geschichte tendenziell ins Gegenteil verkehrt.

Statt liberalen, freizügigen würden heute eher reaktionäre, restriktive Filme als skandalös empfunden. Und das auch völlig zurecht. Rassistische, antisemitische oder sexistische Filme braucht die Welt wirklich nicht. Allerdings können auch Filme als diskriminierend empfunden werden, die satirische gemeint sind, die provozieren, den Finger in die Wunde legen wollen. Derzeit gibt es aber kaum Regisseure oder Regisseurinnen, die den Mut haben, sich aufs Glatteis zu begeben, Grenzen auszuloten. Oder, wenn es sie gibt, werden sie über eine kleine Nische hinaus kaum wahrgenommen. An Tabus und heiklen Themen mangelt es jedenfalls nicht. Im Bereich von Politik oder auch Gewalt, denke ich da beispielsweise an die Terrorismusdebatte, bei Religion an Islamkritik, bei Sexualität an Pädophilie, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Von Feministinnen und von Seiten der Homosexuellen-Verbände, die in den 60er Jahren den progressiven Tabubruch im Kino begrüßt haben, wurden Filme wie zum Beispiel. "Basic Instinct" - ein Film, der seine Wirkung erst entfalten kann, sobald man ihn nicht mehr ernst nimmt - aufgrund frauen- und lesbenfeindlicher Tendenzen kritisiert und den Staat zu Zensurmaßnahmen aufgefordert. Wie bewerten Sie dieses Vorgehen und gibt es Filme, bei denen Proteste gerechtfertigt sind?

Stefan Volk: Bei "Basic Instinct" richteten sich die Proteste gegen ein Drehbuch, das kursierte, bevor der Film überhaupt fertig war. Die Aktivisten und Aktivistinnen haben dann die Dreharbeiten massiv gestört, um den Film zu verhindern oder zumindest zu beeinflussen. Das läuft im Grunde auf den Versuch hinaus, eine Vorzensur der Straße zu etablieren. Ob das im Fall von "Basic Instinct" angemessen war, möchte ich bezweifeln. Grundsätzlich finde ich es aber immer legitim zu protestieren. Man muss auch Verbote fordern dürfen, das gehört zu einer lebendigen gesellschaftlichen Diskussion dazu. Ich persönlich halte von solchen Verboten aber nicht viel. Die Kunstfreiheit ist ein hohes Gut. Und man sollte sie prinzipiell auch dann noch verteidigen, wenn einem die Kunst, die diese Freiheit für sich in Anspruch nimmt, nicht ins Weltbild passt. Damit will ich nicht sagen, dass Kunst alles darf und Filme alles zeigen dürfen, aber eben schon ziemlich viel. Die Grenzen müssen dann im Einzelfall stets aufs Neue ausgelotet werden. Und in den Zensurdebatten um Skandalfilme geschieht genau das.

Gibt es auch Filme, die als "Skandalfilme" konzipiert waren, aber beim Publikum keine derartigen Reaktionen hervorriefen?

Stefan Volk: Das ist natürlich etwas spekulativ, aber ich gehe mal davon aus, dass es von solchen Filmen nur so wimmelt. Filme, die auf Provokation gebürstet waren, dann aber sang- und klanglos verpufften, weil sie entweder kein Publikum fanden oder sich niemand wirklich über sie aufregte. Solche Filme kommen in meinem Buch allerdings nicht vor, weil es ja grade keine Skandalfilme waren.

Baise-moi. Bild: MFA

Skandale können eine Eigendynamik entwickeln, die im Vorfeld nur schwer kalkulierbar ist. Die Regisseurinnen von Baise-moi (2000) hatten beispielsweise angeblich schon eine Kampagne zur Verteidigung der Kunstfreiheit in der Schublade, weil sie darauf spekulierten, dass ihr Film keine reguläre Altersfreigabe bekäme. Die erhielt er dann aber doch, und genau das setzte eine Protestwelle in Gang, die den Film zum Skandalfilm werden ließ.

Übt heutzutage die Zensur noch einen wesentlichen Einfluss auf die Filmbranche aus?

Stefan Volk: Jugendfreigaben sind im internationalen Unterhaltungskino mit Sicherheit ein wesentlicher Faktor, der bei der Filmproduktion auch ganz genau im Auge behalten wird. Filme werden auf die Alterfreigabe, die am meisten Umsatz verspricht, hin gedreht und notfalls auch im Nachhinein noch umgeschnitten. Und was die Erwachsenenfreigabe betrifft: Sie definiert nach wie vor die Grenzen dessen, was im Kino gezeigt werden kann und was nicht. Filmemacher orientieren sich auch daran. Die vielen Spielfilme mit expliziten Sexszenen etwa wurden in den 2000er Jahren nur deshalb gedreht, weil es durch eine veränderte Freigabepraxis möglich geworden war, sie zu zeigen. Skandalfilme fungieren da wie Testballons: kommen sie durch, rücken andere nach.

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