"Die Welt ist bereit, uns zu vergessen"

Vier Jahre nach dem US-"Befreiungskrieg": Ein Gespräch mit der afghanischen Parlamentsabgeordneten Malalai Joya

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Im Oktober 2005 wurde Malalai Joya ins afghanische Parlament gewählt. Im Dezember 2003 machte die damals 25-jährige Delegierte aus der Provinz Farah erstmals international von sich reden: Knapp drei Minuten lang klagte sie in der "Loya Jirga" (Nationalversammlung) jene Mujaheddin-Führer an, die zwischen 1992 und 1996 das Land in eine Ära absoluter Gesetzlosigkeit gestürzt hatten und heute die verfassungsgebende Nationalversammlung anführen. Mit Unterstützung der USA, was so neu nicht ist.

In ihren diversen Kämpfen hatten die USA schon einmal die Mujaheddin unterstützt: zwischen 1979 und 1989, damals im Kampf gegen den Kommunismus. Im Kampf gegen den Terrorismus reinthronisierten sie nun die Kriegsherren, die nach dem Sowjetrückzug einen blutigen Bürgerkrieg ausfochten, geprägt von sadistischen Menschenrechtsverbrechen und Drogenhandel im großen Stil. Kriegsverbrecher wie Abdul Rabb al-Rasul Sayyaf, Führer der Partei "Ittihad-e Islami" und Berater von Präsident Hamid Karzai, Burhanuddin Rabbani, einstiger afghanischer Präsident, dessen Mujaheddin-Partei "Jamiat-e Islami" sich mit anderen Gruppierungen 1996 zur berüchtigten Nordallianz zusammen geschlossen hatte, oder Yunus Qanooni, ein Terrorherrscher der Nordallianz und neuerdings Afghanistans Parlamentssprecher.

Obwohl verhasst, vertreten sie nach den Parlamentswahlen im vergangenen September das Volk. Wahlen, die Präsident Karzai, Malalai Joya zufolge, so kommentiert haben soll:

Die Stimmabgabe ist für die Afghanen eine Übung in Demokratie. Lasst sie sie doppelt üben.

Ende 2001 trafen sich, was Menschenrechte angeht, einen Moment lang die Hoffnungen von West und Ost. Es schien, als seien Afghanistans Frauen tatsächlich befreit. Und heute?

Malalai Joya: Zunächst einmal sind die Taliban nicht gestürzt, sie sind nur nicht mehr allein an der Macht. In Provinzen wie Helmand sind sie noch sehr aktiv. Das Schlimmste aber ist, dass die USA sie durch die Nordallianz ersetzt haben, die schon im Bürgerkrieg wegen ihrer Vergewaltigungen, Morde und ihres gigantischen Drogenhandels im Volk verhasst war. Nein, befreit sind wir Frauen nicht. Verbesserungen gibt es auch kaum. Dass es ein Fitnessstudio für Frauen in Kabul oder einen mühselig betriebenen Frauen-Radiosender gibt, ist Kosmetik. Noch immer trauen sich die Frauen ohne Burqa nicht auf die Straße, noch immer werden sie zu Tode gesteinigt, die Medien berichten nur seltener darüber.

In der neuen Verfassung sind aber doch gleiche Rechte für Frauen und Männer verankert?

Malalai Joya: Kosmetik.

Frauen können auch wählen.

Malalai Joya: Wie sollen Frauen, die in ihren Häusern ein völlig isoliertes Leben führen, plötzlich ein aktives politisches Bewusstsein entwickeln?

Ständige Angst vor sexuellen Übergriffen

Es heißt, manche Frauen würden ein Leben unter den Taliban ihrer heutigen Situation vorziehen?

Malalai Joya: Was die Stellung der Frau angeht, besteht ideologisch und historisch kein wesentlicher Unterschied zwischen Nordallianz und Taliban. Letztere sind eine Horde mittelalterlich denkender Terroristen, erstere sind Horden krimineller und korrupter Terroristen. Der Unterschied für die Frauen besteht eher darin, dass sie von den Taliban gesteinigt, von der Nordallianz vergewaltigt werden.

Daher gehen Hunderttausende afghanischer Mädchen nicht mehr zur Schule, sowohl in Städten wie Kabul, als auch auf dem Land. Sie fürchten sich vor den Attacken der Nordallianz. Ja, manche sehnen sich nach der finsteren Taliban-Periode zurück, weil sie nicht in der ständigen Angst vor sexuellen Übergriffen leben mussten. In einigen Provinzen dürfen beispielsweise Witwen nicht wieder heiraten, wie es unter den Taliban der Fall war. Warum? Weil eine junge Witwe eine begehrenswertere und leichtere Beute für die Warlords ist.

Sie sind eine Frau und haben es 2003 in Ihrer Rede vor der Nationalversammlung gewagt, die Kriegsherren öffentlich anzuprangern.

Malalai Joya: Woraufhin mir Redeverbot erteilt wurde. Die internationale Gemeinschaft hat dagegen nicht protestiert. Die Warlords befahlen dem damaligen Gouverneur meiner Provinz Farah, mich zu ermorden. Ich hatte Glück. Morddrohungen gehören aber seither zu meinem Alltag.

Von den Warlords entsandte Frauen im Parlament

Dennoch wurden Sie zwei Jahre später mit großem Vorsprung vor ihren männlichen Konkurrenten ins Parlament gewählt.

Malalai Joya: Die Warlords wissen, dass die Bevölkerungsmehrheit in der Provinz Farah mich im Parlament sehen will. Es wäre nicht in ihrem Interesse gewesen, die Stimmung durch eine Intervention zusätzlich aufzuheizen. Aber durch meine ständig gefährdete Sicherheit ist meine Arbeit stark eingeschränkt. Ohne Burqa gehe ich nicht ohne weiteres aus, durch mein Land kann ich nicht viel reisen.

Auch im Parlament bin ich isoliert: die meisten Frauen, die in der "Loya Jirga" stimmberechtigt sind, sind von den Warlords entsandt. Und selbst die, die für eine säkulare Demokratie eintreten würden, verhalten sich meist still. Nach den Wahlen signalisierten mir mehrere Frauen, dass sie mich nicht unterstützen können, weil Sayyaf, Rabbani oder Qanooni sie und ihre Familien bedroht haben. Von den 68 Frauen, die in der "Walisi Jirga" (Unteres Abgeordnetenhaus) vertreten sind, schätze ich ein knappes Dutzend als demokratisch gesonnen ein. Glauben Sie, das reicht, um etwas gegen die Warlords und ihre ausländischen Förderer auszurichten?

Statt einer mehrere fundamentalistische Banden

Die USA verkündeten unter anderem über Condoleezza Rice, nicht vergangene Fehler wiederholen und extremistische Gruppen in Afghanistan unterstützen zu wollen.

Malalai Joya: Bislang ist die bittere Wahrheit, dass das afghanische Volk vor dem 11. September unter einer fundamentalistischen Bande zu leiden hatte. Seither leiden wir unter mehreren fundamentalistischen Banden: kriminelle Sunniten und diverse radikal-islamistische Schiiten-Parteien, die alle von den USA unterstützt werden. Die ausländischen Truppen im Land sind nur damit beschäftigt, eine fundamentalistische Gruppe zu unterdrücken, damit die anderen weiterhin imstande bleiben, afghanische Männer und vor allem Frauen zu unterdrücken.

Haben Sie selbst je das Gespräch mit offiziellen ausländischen Regierungsstellen gesucht oder Unterstützung erfahren?

Malalai Joya: Da ich die Doppelmoral der USA entlarve, habe ich von dieser Seite aus wenig zu erwarten. Offiziell unterstützen Sie ja keine politischen Einzelpersonen und Gruppierungen. Hingegen werde ich von US-amerikanischen NGO's und feminitischen Initiativen zu Vortragsreisen eingeladen.

Was können Sie ausrichten?

Malalai Joya: Ich kann nur eine Stimme sein für die, die keine haben. Konkret kann ich kaum helfen: In meiner Provinz Farah gibt es keine Krankenhäuser, keine Schulen, keine Bibliotheken, keine asphaltierten Straßen, nicht einmal Elektrizität oder Telefon. Ich bemühe mich vor allem um Spenden für die OPAWC (Organization of Promoting Afghan Women's Capabilities), einer NGO, bei der ich Mitglied bin.