Wider das Schweigen

Für einen Schülerwettbewerb haben tschetschenische Kinder und Jugendliche ihre „Geschichte“ erzählt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Man hört nicht viel aus Tschetschenien, regelmäßige Berichterstattung findet nicht statt, weil unabhängige Journalisten und Beobachter dort unerwünscht sind. Gegen dieses Schweigen setzt die russische Menschenrechtsorganisation Memorial ein Buch mit Aufsätzen, in denen tschetschenische Schüler über ihre „Geschichte“ berichten.

Nach offizieller russischer Lesart gilt der zweite Tschetschenienkrieg, der 1999 begann, als beendet. Tatsächlich hat er vielleicht an Wucht verloren, doch Frieden ist in der Kaukasusrepublik nicht eingekehrt (Tschetschenien, ein Land im Chaos). Einen Überblick über die regelmäßig stattfindenden Kampfhandlungen gibt das Tschetschenien-Tagebuch, das die Gesellschaft für bedrohte Völker auf ihrer Website führt. Für den Monat Dezember wird dort Artilleriebeschuss vor allem in der Bergregion Tschetscheniens gemeldet. Genauso gehören Folter, Vergewaltigung und Verschleppungen weiterhin zum Alltag.

Auch die russische Menschenrechtsorganisation Memorial kommt in ihrem Jahresbericht zu einem traurigen Fazit: Es gibt Ansätze eines Wiederaufbaus, der sich ganz konkret als das Wiedererrichten von Gebäuden vollzieht, doch Rechtlosigkeit und Willkür sind geblieben und damit Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung.

Einladung zum „Gespräch“

Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial setzt sich dafür ein, dass der Krieg mit seinen verheerenden Folgen von der Öffentlichkeit nicht vergessen wird. Seit 1999 schreibt die Gesellschaft jährlich den Schülergeschichtswettbewerb „Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert“ aus. Vor drei Jahren forderte sie speziell tschetschenische Kinder und Jugendliche auf teilzunehmen. „Es erschien uns wichtig, den Nordkaukasus in unser ‚Gespräch’ mit einzubeziehen und vor allem die tschetschenischen Schüler, um wenigstens bis zu einem gewissen Grad verstehen zu lernen, was sie über ihre Geschichte denken“, schreibt Irina Scherbakowa, Direktorin des Bildungsprogramms von Memorial in ihrer Einleitung.

Insgesamt 155 Arbeiten gingen zwischen 2003 und 2004 ein, von denen eine kleine Auswahl als Buch veröffentlich wurde. In Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung ist es nun unter dem Titel „Zu wissen, dass du noch lebst. Kinder aus Tschetschenien erzählen“ auf Deutsch erschienen.

Da die meisten der Wettbewerbsteilnehmer den größten Teil ihres Lebens im Krieg verbracht haben, bildet der Krieg und seine Folgen für die Menschen das zentrale Thema der eingesandten Erzählungen. Die Eindrücke, die sich am nachhaltigsten eingeprägt haben, sind durchweg die gleichen: das Flüchten müssen, das tagelange Herumsitzen in kalten und feuchten Kellern, der Lärm von Granaten und Bomben und der Verlust von nahe stehenden Personen.

Es fällt auf, dass in allen Geschichten Frauen, Kinder und Alte als Bezugspersonen vorkommen – nie Kämpfer oder Soldaten. Sie treten als gesichtslose Masse auf, die schießt und bombardiert. Es gibt keine Glorifizierung des Kämpfertums, vielmehr völliges Unverständnis für Gewalt und Grausamkeit.

Interessanterweise wird der gegenwärtige Krieg als eine Art Dauerzustand interpretiert, der mit der Eroberung des Nordkaukasus durch Russland im 19. Jahrhundert begann und sich 1944 mit der Deportation der Tschetschenen in die kasachische Steppe fortsetzte. Diana Sangarijewa aus Komsomolskoje schreibt:

Die Geschichte des tschetschenischen Volkes besagt, dass in den letzten 200 Jahren Umsiedlung, Aussiedlung und Deportation zum Leben nahezu jeder Generation gehörten.

Eine zentrale Struktur der Wahrnehmung bildet der Clan bzw. die Familie. Auf ihre Geschichte gründet sich die eigene Identität – wobei manchmal ein Pathos durchklingt, das befremdlich wirkt. Malika Magomadowa aus Geldagan etwa stellt sich so vor:

Ich werde bald 15 Jahre alt. Ist das alt oder jung? Nicht sehr alt, wenn man bedenkt, was ich in den letzten Jahren alles gesehen und gehört habe. Ich bin Tschetschenin, Tochter von Tschetschenen, ich bin stolz auf meine Herkunft und meine Zugehörigkeit zu diesem Volk. Ich gehöre zur siebten Generation der Familie des Gema aus dem Geschlecht der Tumsoi. Sein Sohn war Ola, dessen Sohn war Gasimach, danach kamen Magomed-Ali und schließlich mein Vater Salam – das sind meine Vorfahren.

Anregung eines Diskurses

Memorial hat tschetschenischen Kindern und Jugendlichen mit diesem Projekt die Möglichkeit gegeben, einen für sie wichtigen Verarbeitungsprozess in Gang zu setzen. Darüber hinaus wurden drei Aufsätze von russischen Schülerinnen in das Buch aufgenommen, die sich der Beziehung zwischen Russen und Tschetschenen aus ihrer Perspektive nähern und die deutlich zeigen, wie weit entfernt dieser Krieg von der Alltagserfahrung der meisten russischen Bürger ist. Insofern ist das Buch auch ein Versuch, den längst fälligen Diskurs über den Krieg und das Verhältnis von Russen und Tschetschenen anzuregen. Grigorij Schwedow, Memorial Vorstandsmitglied, schreibt dazu in seiner Einleitung:

Wir haben mit unterschiedlichsten Mitteil versucht, die Gleichgültigkeit der russischen Bürger gegenüber den Problemen Tschetscheniens aufzubrechen. Bürgerrechtsaktivisten aus verschiedenen Regionen der Russischen Föderation absolvierten Praktika in Büros von Memorial in Inguschetien und Tschetschenien. Nach ihrer Rückkehr waren sie in der Lage, zumindest ihre Gemeinschaften in Perm, Rjasan oder Sywtywkar ein wenig zu überzeugen. […] Doch es blieb und bleibt weiterhin eine schwierige Aufgabe, wenigstens den einfachen Gedanken ins Bewusstsein der russischen Bürger zu tragen: dass der Krieg ein allgemeines Unglück ist.

„Es ist wie die Schweiz, nur ohne Straßen“

Weil sie nicht an ein baldiges Ende des Krieges glauben, entwerfen die tschetschenischen Schüler für ihr weiteres Leben nur vage Perspektiven. Dagegen blickte der tschetschenische Premierminister Ramsan Kadyrow jüngst mit ausgesprochenem Optimismus in die Zukunft seines Landes. In der „Daily Telegraph“ vom 21.12. gab er eine andere „Geschichte“ zum Besten. Er sieht die Kaukasusrepublik bereits als attraktives Urlaubsziel für Europäer. Und sein stellvertretender Tourismusminister Salman Dalakow durfte versichern: „Es ist wie die Schweiz, nur ohne Straßen.“

Bis die Hotels renoviert seien, so wird Kadyrow zitiert, müssten die Touristen allerdings campen. Wen die vielen Minen dabei nicht stören, der kann sich also auf eine vom Tourismus noch unverdorbene „Ursprünglichkeit“ freuen.

Zu wissen, dass du noch lebst. Kinder erzählen aus Tschetschenien. Hrsg. von der Gesellschaft Memorial und der Heinrich-Böll-Stiftung. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2006, 8,95 Euro.