Microsofts Lizenz zum Töten

Der Softwaregigant nach dem Washingtoner "Frei-Schuldspruch"

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Im Silicon Valley wehten die Flaggen am 1. November auf Halbmast. Das Tal der digitalen Wirtschaft, dessen Unternehmen sich traditionell einen erbitterten Kampf um die Vorherrschaft im Markt für Informationstechnik mit Microsoft liefern, betrauerte seine derbe Niederlage gegen den Redmonder Riesen. "Das ist ein schlechter Tag für das Kartellrecht, für die Verbraucher und das Valley", brachte Rich Gray, ein einheimischer Anwalt und langjähriger Beobachter des Microsoft-Prozesses, die Stimmung in der Bay Area auf den Punkt.

Grund für die Trübsal: Die Washingtoner Bundesrichterin mit dem stabreimreichen Namen, Colleen Kollar-Kotelly, hatte den ein Jahr zuvor vor dem Berufungsgericht getroffenen Vergleich zwischen der ambitionierten Softwarefirma und der US-Regierung akzeptiert. Dabei hatte sie die von neun US-Bundesstaaten geforderten Abhilfen gegen die erdrückende Marktmacht Microsofts, die zum Großteil auch auf der Wunschliste der Redmond-Gegner im Silicon Valley standen, als "ungerechtfertige Manipulation" des Wettbewerbs beiseite geschoben. Ihrer Meinung nach hätten Konkurrenten und Valley-Größen wie Apple, Oracle oder Sun Microsystems andernfalls "einen künstlichen Vorteil" erhalten.

"Die Richterin sagt, dass es in Ordnung ist, die Bank auszurauben und das Geld zu behalten", interpretierte Grays Kollege Donald Falk aus einer Kanzlei im selbst erklärten Tal der Tränen den Schiedsspruch, der von Kartellrechtsexperten wie dem Baltimorer Juraprofessor Bob Lande als "berufungswasserdicht" angesehen wird. Beim nächstes Mal sollte Microsoft einfach eine Waffe anderen Kalibers verwenden.

Doch warum sollten die Redmonder ihre bewährten, vielfach beschriebenen Eroberungstaktiken in Form von tödlichen Umarmungen offener Standards, dem Ankündigen von Vaporware oder dem Eintreten in Verschleißschlachten überhaupt über den Haufen werfen? Kollar-Kotelly habe der bereits wieder unter Dampf stehenden Microsoft-Maschinerie, die sich nach der gesamten digitalen Welt ausstreckt, den letzten Zündfunken untern Kessel gehalten, argwöhnen Kritiker. Der richterliche Befund habe Bill Gates und seinen Mannen "einen Freifahrtschein für künftiges Fehlverhalten ausgestellt", so der Silicon-Valley-Kolumnist Dan Gillmor. Ein "Seriengesetzesbrecher" komme ungeschoren davon.

Illegales Verhalten

Auch wenn man die den Kaliforniern eigene Betroffenheitsrhetorik von den Reaktionen abzieht, bleibt im Microsoft-Urteil genug Besorgnis Erregendes übrig. Die US-Richterin, die sich in ihrem 344-Seiten-Wälzer zur Spruchbegründung immer wieder Gedanken zur künftigen Innovationskraft des größten amerikanischen (und weltweiten) Softwarekonzerns in Zeiten der allgemeinem Wirtschaftsflaute macht, bestätigte zwar erneut, dass Microsoft mit Windows ein Monopol über die Desk- und Laptops des Globus besitze. Sie monierte zusammen mit den Klägern, "dass Microsoft eine Tendenz habe, die Effekte seines illegalen Verhaltens zu minimieren."

Das sei "frustrierend", könne aber nicht harte, über den gefundenen Vergleich deutlich hinausgehende Sanktionen auf Basis des Kartellrechts rechtfertigen. Nun geht die überall spürbare Angst um, dass Microsoft seine Bar-Rücklagen von über 40 Milliarden Dollar sowie seine vom Urteil in keiner Weise betroffene Marketing- und Lobbymacht ungehemmt einsetzt, um sein Windows-Monopol auf neue Märkte auszudehnen. Im Visier hat der Konzern beispielsweise die Wohnzimmer mit der Xbox oder Windows CE for Smart Displays, Mobilgeräte mit Pocket PC oder Smartphone 2002 sowie Software-Anwendungen für (zunächst) mittelständische Unternehmen.

Microsoft ist derzeit naturgemäß noch bemüht, solche Befürchtungen herunterzuspielen. Hatten doch sowohl US-Justizminister John Ashcroft wie die Richterin trotz ihres eingeschlagenen Schmusekurses betont, dass sie in den kommenden fünf Jahren, in denen die Bestimmungen des Vergleichs zunächst gelten, ein wachsames Auge auf den Monopolisten haben würden.

Die Redmonder beeilten sich daher sichtlich, das von Kollar-Kotelly leicht in seiner Unabhängigkeit gestärkte Komitee zur Prüfung der Umsetzung der Gerichtsauflagen einzusetzen: Schon eine Woche nach der Urteilsverkündung hatten sie James I. Cash, einen seit einem Jahr im Aufsichtsrat von Microsoft (!) sitzenden Harvard-Professor, Raymond Gilmartin, den Chef des Pharmariesen Merck, sowie mit Ann McLaughlin Korologos eine frühere Arbeitsministerin aus der Reagan-Ära in den Kartellausschuss berufen. Dass diese Zusammensetzung wohl kaum kritische Töne verspricht, ging angesichts der raschen Einberufung des Gremiums weit gehend unter.

Freie Hand

Doch selbst falls die Überwacher tatsächlich ein Gespür für die technischen Feinheiten der Eroberungstaktiken Microsoft entwickeln sollten, ist der von beiden Seiten angenommene Vergleich voller Hintertüren. Microsoft wird zwar dazu verdonnert, technische Informationen wie Software-Schnittstellen für ans Betriebssystem andockende Programme und Server-Protokolle gegenüber den jeweiligen Wettbewerbern offen zu legen. Doch was genau das in der Praxis heißt, darf Microsoft größtenteils selbst bestimmen.

So hatten es die verbliebenen klagenden US-Staaten vor allem darauf abgesehen, dass Microsoft zwischen der Anwendungsebene und dem Betriebssystem eingepflanzte Softwarebestandteile wie Java-Umgebungen oder den Windows Media Player klar von Windows trennen solle. Doch die Kläger konnten laut der Richterin nicht herausarbeiten, "welcher Code fester Bestandteil des Betriebssystems ist" und welche Anteile zu der so genannten Middleware gehören. Microsoft hat damit weit gehend freie Hand bei der Integration zusätzlicher Software in Windows. Im Fall des Internet Explorers, der den Streit zwischen den USA und dem Konzern 1998 auslöste, muss der Konzern PC-Herstellern aber größere Freiheiten bei der Installation konkurrierender Software geben.

In Redmond gelten die Auflagen bereits mit dem Service Pack 1 für Windows XP für größtenteils umgesetzt. Einen Ausblick auf zukünftige Streitereien geben jedoch im Oktober vorgebrachte Beschwerden von Konkurrenten. Stein des Anstoßes ist etwa die Zusammenarbeit mit Microsoft bei den als Zukunftstechnologie gehypten Webservices rund um die Redmonder Dotnet-Offensive. Um Zugang zu den Protokollinformationen zu erhalten, die laut Gericht ja verfügbar zu machen sind, muss sich ein interessiertes Unternehmen zunächst einmal auf Microsofts Identifizierungssystem Passport einlassen, dann unter anderem ein Geheimhaltungsformular unterschreiben sowie letztlich die von Redmond geforderten Gebühren für die Einblicke in das geistige Eigentum der Firma zahlen.

Eine "verletzende" Prozedur, findet der Red-Hat-Justiziar Mark Webbink. Microsoft habe nichts, aber auch gar nichts unternommen, um die Bedingungen auf dem Spielfeld anzugleichen. Generell befürchten Marktbeobachter, dass der erneut auf Expansionskurs drehende Tanker vor allem mithilfe versteckter technischer Definitionen in Middleware- und Kommunikationsprotokollen, durch Patente sowie durch zweideutige Lizenzvereinbarungen die Konkurrenz weiter auf Distanz halten wird.

Blick nach Brüssel

Die Augen der Branche sind daher auf Brüssel gerichtet. Die dortigen Kartellwächter werden vermutlich noch vor Ende des Jahres in ihrem eigenen Verfahren gegen Microsoft eine Entscheidung fällen. Im Kern geht es dabei um Middleware-Komponenten wie den Media Player und um die Aufmischung des Servermarktes durch Redmond. Brad Smith, Chef-Justiziar im Gates-Konzern, verlieh gleich nach der Urteilsverkündung Anfang November der Hoffnung Ausdruck, dass die EU-Kommission die Entwicklung jenseits des Atlantiks als "Referenzpunkt" ansehen würde. Man sei nicht bereit, die Entfernung des Media-Player-Codes zu erwägen.

Der Ausgang in Brüssel ist jedoch offen. "Unser Fall liegt ganz anders als der in den USA", stellte eine Sprecherin des Wettbewerbskommissars Mario Monti jüngst klar. "Wir müssen unseren eigenen Regeln folgen." Tatsächlich ist es in Amerika im Gegensatz zu den USA nicht das Ziel der Kartellbehörden, Monopole an sich zu verhindern oder zu zerschlagen. Der Maßstab für die Beurteilung marktwidrigen Verhaltens lag hauptsächlich in der Auswirkung auf den Verbraucher. Daher akzeptierte Kollar-Kotelly den Kompromiss "im öffentlichen Interesse". Ob Monti nach drei ausgewiesenen Fehlurteilen in Fusionsverfahren nun aber just in einem Kartellverfahren gegen Amerikas Vorzeigefirma Microsoft ein Zeichen setzen wird, ist die große Frage.

Eine unerwartete Wendung hat das Brüsseler Verfahren zudem mit dem Wechsel des Leiters der Grundsatzabteilung der Generaldirektion Informationsgesellschaft in der EU-Kommission, Detlef Eckerts, zur Pariser Europazentrale des Softwaregiganten genommen. Der Deutsche war bislang zwar keineswegs als Microsoft-Freund bekannt und vertrat zwar eine teilweise geradezu freizügige Ansicht in Punkto Kopierfreiheit im Netz. Er dürfte sich angesichts eines fürstlichen Gehalts aus Redmond aber sicher schnell an die Urheberrechtspolitik des Konzerns mit all ihren "Produktaktivierungen" und Anti-Pirateriekampagnen anpassen. Und vor allem die Linux-freundliche Politik seines früheren Chefs, des finnischen Kommissars Erkki Liikanen, mit seinem Insiderwissen bekämpfen können.

Mit Spannung wird auch der Ausgang der zivilrechtlichen Klagen gegen Microsoft erwartet, die unter anderem die AOL-Time-Warner-Tochter Netscape (Die Schlacht der Netzgiganten) sowie der ewige Gegner Sun auf Basis der Verurteilungen des Softwaregiganten in den ersten beiden Verfahrensschritten in den Jahren 2000 und 2001 anstrengten. Dabei geht es um Milliardensummen, die die Wettbewerber von dem Konzern, der schließlich der Verletzung von Antitrust-Bestimmungen für schuldig befunden wurde, als Wiedergutmachung fordern. Schon in dieser Woche muss sich außerdem ein Richter in Baltimore auf eine Klage von Sun hin mit der Frage beschäftigen, ob Microsoft in seine Dotnet-Programmierwerkzeuge die Java-Technologie seines Erzfeindes einbauen muss.

Ferner sind noch über 100 gebündelte Klagen einzelner Verbraucher wegen überteuerter Windows-Preise gegen Microsoft anhängig. Der zuständige Richter, Frederick Motz vom Bezirksgericht Maryland, hatte im Oktober bereits signalisiert, dass in diesen Fällen 395 Befunde über wettbewerbswidriges Verhalten aus den früheren Verhandlungen gegen das Gates-Imperium Verwendung finden könnten.

Skeptiker wie der Gesellschaftsinformatiker Bernd Lutterbeck sehen das Kartellrecht in hochdynamischen und auf ständigen Innovationen beruhenden Hightech- und Informationsmärkten jedoch generell als nicht mehr durchsetzungskräftig an. "Wirklich überzeugende Vorschläge sind gegenwärtig nicht aus dieser Richtung in Sicht", sagt der Berliner TU-Professor.

Die Chancen, dass sich Massachusetts, der einzige verbliebene US-Staat, der das Washingtoner Urteil Kollar-Kotellys noch anfechten will, vor dem Berufungsgericht in der US-Hauptstadt durchsetzt, sind daher gering. Der Generalstaatsanwalt des Staates, Tom Reilly, will zwar den drohenden Verbraucherschaden dieses Mal stärker herausarbeiten. Doch leicht dürfte das nicht fallen. Die übrigen ehemaligen "Rebellen-Staaten" fühlen sich daher wohler mit den 28,6 Millionen Dollar, die ihnen Microsoft als nobler Gewinner versprochen hat. Mit dem Geld aus der Portokasse wollen die inzwischen Narrenfreiheit genießenden Redmonder großzügigerweise die Gerichtskosten, die den öffentlichen Haushalten durch den "Jahrhundertprozess" entstandenen sind, begleichen - und sogar ihre eigene Überwachung vorfinanzieren.

Open Source als Hoffnungsträger?

Die große Hoffnung von ihm und zahlreichen anderen Warnern vor der digitalen Weltherrschaft Microsofts liegt auf den Methoden der Softwareentwicklung nach dem Open-Source-Prinzip, die konträr zur Redmond-Ökonomie liegen. Von der Freien Software, die zur Modifikation, Erweiterung und Verbesserung einlädt und sich einer absoluten technischen Kontrolle entzieht, sieht Microsoft selbst seit Jahren die größte Bedrohung für sein Reich ausgehen.

Die Verfechter Freier Software bauen nach dem "kosmetischen Urteil" nun darauf, dass "Deutschland und Europa noch stärker und konsequenter den Aufbau einer nachhaltigen IT-Wirtschaft auf Basis Freier Software vorantreiben", so Georg Greve von der Free Software Foundation Europe gegenüber Telepolis.

Doch Microsoft hat selbst die Parole ausgegeben, "von Linux lernen zu wollen", was nach einer neuen, für den Lehrer eventuell unheilvollen Umarmung aussieht (vgl. c't 23/2002, S. 60). Kontrollmaßnahmen hätten die Redmonder in diesem Schlachtfeld nicht zu befürchten, glaubt Lutterbeck. Man könne sich zumindest nach den Prozesserfahrungen nicht vorstellen, dass US-Wettbewerbsbehörden gegen Microsoft vorgehen würden, wenn der Konzern Open-Source-Entwicklern technische oder vertragliche Fallbeine stelle.

Eine Analyse des Ausgangs von Microsofts Anti-Trust-Prozess findet sich auch in der c't 24/2002, S. 60.

Stefan Krempl hat für den neuen Microsoft-Reader Medien, Macht Monopol, der im November in der edition suhrkamp erschienen ist, den Report "Microsoft als Wirtschaftsmacht" verfasst.