Wie geht es, Nachbar?

Das Netz ist ein lebendiges System von Verbindungen, Knoten und Terminals, die unseren kollektiven Willen verkörpern.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Warum sollten die unschuldigen Bäume Ihres Landes geopfert werden, um einen Platz zum Drucken für die wirren Gedanken eines in New York lebenden Medientheoretikers zu schaffen? Wie könnten die Leser der Zeitungen möglicherweise einen Nutzen aus den Überlegungen eines Cyberautoren vom anderen Teil der Erde ziehen? Weil wir uns dank der interaktiven Technologie gegenseitig wahrnehmen. Wir leben zum Guten oder Schlechten von jetzt an in einer großen zusammenhängenden Welt. Und es wäre am besten, wenn wir alle versuchen, einen Weg zu finden, um damit zurechtzukommen.

Es ist kein Geheimnis, daß "Globalisierung" auf der Liste derjenigen Worte steht, die am besten den Charakter des kommenden Jahrhunderts beschreiben. Während das militärische Kommunikationsnetz, das zuvor Arpanet hieß, endgültig übergeht in eine globale digitale Infrastruktur, veranstalten Politiker, Ökonomen, Regierungen, Wirtschaftsleute, Verkäufer und soziale Aktivisten ein Wettrennen, um ihre Position zu sichern. Es geht nur darum, wer etwas bei der Gestaltung der medienbasierten Kultur zu sagen hat und wer nicht, in der wir alle bald mehr, als wir jetzt noch verstehen können, lebendige Materie sein werden.

Nachbar, es ist die Zeit gekommen, um sich zusammenzusetzen und einige Dinge zu besprechen.

Lassen Sie mich zuerst ein uneingeschränktes Bedauern über die vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Handlungen meiner Landsleute äußern. Wir Amerikaner haben Medien stets als etwas "Westliches" verstanden. Zu lange haben wir uns selbst als die Sender und die übrige Welt als die Konsumenten unserer Inhalte betrachtet. Angefangen von "Dallas" bis hin zu "Baywatch", CNN oder MTV unterstützen uns die Medien, den American Way den Begierigen und den Widerstrebenden aufzudrängen. Das ist wahrscheinlich teilweise der Grund, warum das weltweite Wachstum des Internet zunächst als solche Bedrohung erschienen ist. Noch mehr amerikanische Medien, Werte und Produkte wurden immer besser über den ganzen Globus verteilt. Aber unsere privatwirtschaftlichen Medienmächte haben natürlich nicht erkannt, daß die von ihnen zur Ausdehnung ihrer Reichweite benutzten Netze nicht einseitig treu sind. Informationen reisen mit derselben Geschwindigkeit und Kraft hin und her.

Auch wenn die Menschen, die für das Internet Geld gezahlt haben, gedacht haben mögen, daß sie einfach nur neue Märkte für Computer, Modems, Software und andere amerikanische Dinge geschaffen haben, so machten sie etwas ganz anderes: sie dezentralisierten die Medienwelt und stellten ihre eigene Autorität in Frage. Während die Rundfunkmedien denjenigen Macht verliehen, die die Programme machten, verleiht die interaktive Technologie dem kulturellen Organismus die Macht.

Die Netze, die als Überträger für die soziale Programmierung gedacht waren, dienen stattdessen als Feedback-Kanäle. Das Internet sichert nicht Amerikas Stellung als Diktator globaler Werte, sondern es hat die Welt auf Amerika losgelassen. Die Welt wird nie mehr dieselbe sein.

Während die Rundfunkmedien zur Abtötung und Desensibilisierung tendieren, ist Interaktivität ein Weckruf. Die Arme des globalen Medienraums gleichen neuronalen Verbindungen, die die Gehirne und selbst die Herzen all jener physikalisch vergrößern, die sich einloggen. Die miteinander verdrahteten Teilnehmer an der globalen digitalen Infrastruktur lassen eine neue Lebensform entstehen. Die Medien sind wirklich lebendig. Und darüber werde ich an dieser Stelle schreiben: über das lebendige System von Verbindungen, Knoten und Terminals, die unseren kollektiven Willen verkörpern, und darüber, wie man sie zum gegenseitigen Vorteil einsetzen kann.

Für jedes 14-jährige Mädchen, das seine Meinung in einem Usenet-Gespräch mitteilt, gibt es eine Firma, die es auf eine Web-Site zu locken versucht, wo es eine interaktive Barbie-Puppe kaufen kann. Für jede aktive politische Gruppe, die versucht, die Welt zu einen, gibt es einen vernetzten Wirtschaftswissenschaftler, der den rechten Liberalismus unter dem Titel "offene Märkte" und "globaler Kapitalismus" zu propagieren sucht. Für jeden Studenten, der eine Shareware entwickelt, um uns zu helfen, die Spam-Mail zu filtern, gibt es eine Softwarefirma, die einen neuen Web-Browser entwickelt, der ein teures Upgrade des Arbeitsspeichers und der Prozessorgeschwindigkeit erfordert, um richtig zu funktionieren.

In gewissem Sinne werden meine Kolumnen Texte sein, die sagen, wie man etwas macht. Doch anstatt zu lehren, wie man ein Netzwerk anbindet oder einen Shell-Account einrichtet, werde ich erkunden, wie wir diese sogenannte Revolution auf gegenseitig nützliche Ziele ausrichten können.

Auch wenn das Internet zur Zeit auf erschreckende Weise wie ein "Pornoladen" wirkt, hat es das Potential einer responsiven, vernetzten und globalen Kultur in einem Ausmaß, das vor einem Jahrzehnt noch unvorstellbar war. Das interaktive Zeitalter dreht sich nicht um die Technologie. Das war noch nie der Fall. Es handelt davon, die Medienwerkzeuge denjenigen zu entwenden, die uns zur Unterwerfung programmieren, und sie dann dazu zu verwenden, bessere Beziehungen zwischen den einzelnen herzustellen. Nur dann können wir beginnen, darum zu kämpfen, was eine globale Gemeinschaft wirklich sein könnte.

Daher werde ich aus meiner Wohnung in Greenwich Village meine Meinung über das mailen, was Ihnen begegnen wird und ob Sie es mit offenen Armen aufnehmen oder die Löschtaste drücken sollen, bevor es ankommt. Ich hoffe, Sie werden sich das Recht nehmen, dasselbe zu machen.

Der interaktive Medienraum ist wie ein Garten. Wir sollten es zusammen schaffen können, das Wachstum dessen zu fördern, was funktioniert, und das zu jäten, was dies nicht tut. Und solange nicht jeder diese Kolumne online lesen kann, müssen wir vielleicht auf dem Weg dazu einige wirkliche Bäume töten. Verwenden wir sie zumindest für einen guten Zweck.

Copyright 1998 by Douglas Rushkoff
Distributed by The New York Times Special Features
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer