Ende des globalen Kapitalismus - Das Neue Historische Projekt

Am 20. und 21. Mai 2000 findet an der Universität Göttingen ein sozialwissenschaftlicher Kongress zur Diskussion nach Alternativen zum globalen Kapitalismus statt

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Sechs Referenten, darunter drei aus Lateinamerika, werden mit den Besuchern des Kongresses über Gegenbewegungen und mögliche Alternativen zum globalen Kapitalismus diskutieren. Trotz unterschiedlicher politischer Ansätze eint die Referenten ihre Kritik am Neoliberalismus. Neben Prof. Dr. Heinz Dieterich und Prof. Dr. Arno Peters werden u.a. Prof. Dr. Maria Mies und der Herausgeber der Zeitschrift konkret, Hermann L. Gremliza, ihre Positionen darlegen. Prof. Dr. Nildo Ouriques (Arbeiterpartei Brasiliens PT) und Dr. Raimundo Franco Parellada, Kuba, referieren über die Bedeutung eines Neuen Historischen Projekts der Moderne als Alternative zum globalen Kapitalismus aus der Sicht lateinamerikanischer Länder.

Neben der theoretischen Debatte ist der praktische Schwerpunkt des Kongresses 2000 die Vernetzung von politisch, kulturell und sozial engagierten Basisgruppen über das Internet. Der Göttinger Verein "Perspektive unabhängige Kommunikation (puk)" mit seinem Internet-Projekt für Politik und Kultur (www.puk.de) besteht seit nunmehr zwei Jahren.

Die (Alp)Träume des Neoliberalismus

Wie sich die Interessenvertretungen der transnationalen Konzerne die Zukunft einer globalen Gesellschaft vorstellen, zeigen beispielhaft einige Regelungen, die ursprünglich für das "Multilaterale Investitionsabkommen" (MAI) vorgesehen waren: Für das MAI war z.B. erstmals die rechtliche Gleichstellung von "Investoren" und Staaten geplant. Für Investoren sollte damit die Möglichkeit bestehen, Staaten bei Vorliegen von "Investitionshindernissen" zu verklagen. Die Definition von "Investitionshindernissen" war dabei sehr weit gefasst. Darunter fielen beispielsweise sämtliche Importzölle, die einheimische Industrien vor Konkurrenz aus dem Ausland bisher schützten, aber auch Umweltschutzrichtlinien und Sozialpläne für Unternehmen.

Das Vertragswerk des MAI ist mittlerweile (auch aufgrund weltweiter Proteste) vom Tisch, nicht aber die in ihm vorgesehenen Regelungen, die nun in anderer Form für die "Liberalisierung des Welthandels" durchgesetzt werden sollen. Spiegelbilder dieser weder Moral noch Ethik berücksichtigenden "Liberalisierung" der Wirtschaft sind der weitgehende Abbau von Umwelt- und Sozialstandards sowie demokratischen Rechten, der Verlust kultureller Vielfalt, die Patentierung von Lebewesen und Pflanzen zur kommerziellen Verwertung und die militärische Intervention zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen. Dies gilt es zu verhindern. Und dies wird immer mehr Menschen bewusst.

Die theoretische Grundlage des Neuen Historischen Projekts

Heinz Dieterich unterbreitet zusammen mit fünf Wissenschaftlern und Autoren aus unterschiedlichen Fachgebieten (u.a. Sozialwissenschaften, Philosophie/Ethik und Mathematik, Physik) einen Vorschlag für eine Alternative zum System des globalen Kapitalismus. Das gemeinsame Buch "Fin del capitalismo global - El nuevo Proyecto Histórico" (Ende des globalen Kapitalismus - Das Neue Historische Projekt) beinhaltet eine neue soziale Utopie, in der Ausbeutung, Herrschaft und Entfremdung als gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen aufhebbar sind.

Die ökonomische Grundlage dieser neuen Gesellschaft könnte auf dem vom Bremer Historiker, Geograf und Ökonom Arno Peters vorgeschlagenen "Äquivalenz-Prinzip als Grundlage der Global-Ökonomie" beruhen. Peters stellt in den Mittelpunkt seiner Überlegungen den äquivalenten (gleichwertigen) Tausch von Gütern und Dienstleistungen. Damit dieser Tausch auch tatsächlich gerecht ist und kein Tauschpartner Vorteile auf Kosten des anderen erwirtschaften kann, wie es in der heutigen kapitalistischen Weltwirtschaft der Fall ist, bedarf es eines wirklich objektiven Wertmaßstabs. Dieser objektive Maßstab ist nach Peters die Arbeitszeit, die in einem bestimmten Produkt enthalten oder zur Erbringung einer Dienstleistung erforderlich ist. Denn bisher erfolgte weltweit der Austausch auf Grundlage der Preise und nicht auf Basis der tatsächlichen Werte.

Mit der Computer-Technologie und den Methoden der Statistik sind heute erstmals die Mittel vorhanden, den objektiven Wert einer Ware oder Dienstleistung zu ermitteln. Der gleichwertige Austausch auf Grundlage der Arbeitszeit bezieht z.B. auch jene gesellschaftlichen Bereiche ein, die im Kapitalismus bisher nicht entlohnt wurden (wie Kindererziehung, Pflege- und Hausarbeit). Gleichzeitig ist es dadurch aber auch möglich, Importe und Exporte nach verschiedenen Kategorien zu bewerten: In der heutigen kapitalistischen Weltwirtschaft wird der Handel nur auf Basis von Preisen getätigt. Durch die Möglichkeit, den Handel nun zusätzlich auch auf Basis der Arbeitszeiten zu bewerten, könnten in einer Übergangsphase beide Berechnungssysteme nebeneinander existieren und sind miteinander austauschbar. Dies schafft den Raum für regionale Wirtschaftsstrukturen, die nach innen mit einem gänzlich anderen, nicht-kapitalistischen Wirtschaftsprinzip funktionieren, aber dennoch nicht vom Weltmarkt abgekoppelt sind.

Die "Flecken des Widerstands" verbinden!

Neben einer gesellschaftsverändernden Theorie ist natürlich auch eine gesellschaftsverändernde Praxis erforderlich, die einer Utopie zur Wirklichkeit verhilft, in dem sie die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse berücksichtigt und strategisch handelt.

Subcommandante Marcos der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN bezeichnete den weltweit aufflackernden Widerstand gegen den Neoliberalismus als "bolsas de resistencia" - Flecken des Widerstands auf der Weltkarte des globalen Kapitalismus. Dieser Widerstand ist räumlich und zeitlich voneinander getrennt, es fehlt ihm zur Zeit eine gemeinsam definierte Stoßrichtung. Doch hier kann die Theorie des Neuen Historischen Projekts zur gesellschaftsverändernden Praxis führen. Ähnlich wie ein Magnetfeld diffus und unorganisiert nebeneinander existierende Eisenspäne in ihrer Position ordnet und in eine Richtung lenkt, besitzt das Neue Historische Projekt das Potenzial, Bewegungen zu vereinheitlichen und zu organisieren.

Ein grenzübergreifender Zusammenschluss von Ländern Lateinamerikas, wirtschaftlich auf Grundlage des Äquivalenz-Prinzips und politisch als teilhabende, alle gesellschaftlichen Sektoren einbeziehende Demokratie würde gewaltige Auswirkungen nach sich ziehen.

Innerhalb dieser regionalen Organisierung ließe sich weitgehende soziale Gerechtigkeit verwirklichen, denn die Arbeit der Menschen käme nicht mehr den wenigen Reichen und Besitzenden zugute, sondern der ganzen Gesellschaft. Die Aufhebung sozialer Ungerechtigkeit, der Ausbau des Bildungs- und Sozialsystems und der Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen hätte auf andere Länder Lateinamerikas und auch weltweit starke Ausstrahlung. Es wird dann an jedem einzelnen in den Industrienationen lebenden Menschen liegen, ob er/sie bereit ist, die Ungerechtigkeit im Welthandel zu Lasten der armen Länder weiterhin zu dulden und moralisch mitzuverantworten, die "Jahr für Jahr etwa so viele Menschen verhungern [lässt], wie die beiden Weltkriege insgesamt Opfer forderten". (Arno Peters)

Samstag, 20. Mai 2000
Ort: Uni Göttingen - Zentrales Hörsaalgebäude

10.00-10.15 Uhr: Eröffnung des Kongresses 2000
puk - Perspektive unabhängige Kommunikation, Göttingen

10.15-11.45 Uhr: Ist eine nichtkapitalistische Global-Gesellschaft möglich?
Hermann L. Gremliza, Zeitschrift konkret, Hamburg

12.45-13.45 Uhr: Gegen den Neoliberalismus. Globalisierung von unten.
Prof. Dr. Maria Mies, Netzwerk gegen Neoliberalismus und Konzernherrschaft, Köln.

15.00-16.45 Uhr: Das Äquivalenz-Prinzip als ökonomische Grundlage einer neuen demokratischen Weltgesellschaft
Prof. Dr. Arno Peters, Leiter des Instituts für Universalgeschichte, Bremen

17.00-18.30 Uhr: Die Angst der Marxisten vor dem Neuen Historischen Projekt
Prof. Dr. Nildo Domingos Ouriques, Führungsmitglied der Arbeiterpartei Brasiliens PT, Brasilien

20.00-??? Uhr: Der Kongress tanzt.

Sonntag, 21. Mai 2000

10.00-11.45 Uhr: Der Übergang vom globalen Kapitalismus zum Neuen Historischen Projekt
Prof. Dr. Heinz Dieterich, Präsident des Forums für lateinamerikanische Identität und Emanzipation, Mexiko

12.00-13.00 Uhr: Die Rolle Kubas in der Entwicklung des Neuen Historischen Projekts
Dr. Raimundo Franco Parellada, Direktor des Instituts für Kybernetik, Mathematik und Physik in La Habana, Kuba

14.00-15.00 Uhr: Das Internet als Medium einer weltweiten basisdemokratischen Organisierung
puk - Perspektive unabhängige Kommunikation, Göttingen und Projekt Interkonti, Berlin

15.00-17.00 Uhr: Ende des globalen Kapitalismus
Podiumsdiskussion aller Referent(inn)en