Griechische Justiz: Im Zweifel gegen die Angeklagten …

Bild: Wassilis Aswestopoulos

… vor allem wenn sie nicht rechter Gesinnung sind

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Vor dem Athener Berufungsgericht wurde Anfang dieser Woche der Antrag von zwei Inhaftierten auf Aussetzung ihrer Haft bis zur Entscheidung einer Berufungsverhandlung über ihre Unschuld verhandelt. Es ging um die unter fadenscheinigen Vorwürfen und mit nicht haltbaren "Beweisen" verurteile Irianna B.L. (siehe Griechische Anti-Terror-Institutionen im Amok) und um einen in ähnlicher Weise verurteilten weiteren Inhaftierten, Perikles.

Beweise wissenschaftlich zerpflückt

Im Fall Irianna B.L. wurden die beim Strafverfahren vorgelegten Beweise wissenschaftlich zerpflückt. Eine von der Antiterrorpolizei angeführte, nicht mehr auffindbare DNA-Probe, war nicht nur hinsichtlich der Probenmenge unzureichend. Das beauftragte Labor hatte keine Zulassung für derartige Untersuchungen und die von der Staatsanwaltschaft vorgelegte Expertise zeigt sogar, dass sieben der Charakteristiken der vorgelegten DNA von der DNA der über die Probe als "Mitglied einer terroristischen Vereinigung" zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilten Irianna nicht übereinstimmen.

Entsprechende wissenschaftlich fundierte Aussagen gegen den beim Prozess gegen Irianna vorgelegten "Beweis" werden von zahlreichen qualifizierten Wissenschaftlern Griechenlands unterzeichnet. Eine weitere Überprüfung ist nicht möglich, denn das belastende Material ist "verschwunden" - offiziell, weil es zu wenig davon gab. Es gab - wenn die DNA-Probe vorlag - nur auf einem von 49 von der Antiterrorpolizei vorgelegten Beweisstücken die Spuren von von Irianna. Die Polizei selbst spricht von einem DNA-Spur-Fragment.

Der zweite vom verurteilenden Gericht als "Beweis" vorgelegte Vorwurf, Irianna würde mit einem Terroristen zusammenleben, widerlegt sich selbst. Der Lebensgefährte der jungen Doktorandin war zwar angeklagt worden und musste jahrelang Prozesse über sich ergehen lassen, er wurde jedoch letztinstanzlich frei gesprochen.

Jahrelange Zuchthausstrafen

Dass Irianna und Perikles jahrelange Zuchthausstrafen erhielten, hängt nicht mit den ihnen vorgeworfenen Vergehen zusammen. Die dreizehn Jahre für Irianna resultieren schlicht aus den strafverschärfenden Paragraphen des griechischen Antiterrorparagraphen 187A, welchen die Syriza-Regierung eigentlich abschaffen wollte.

Dieser vervielfacht Haftstrafen, wenn den Angeklagten ein Bezug zur Anarchie oder zu den von der Justiz als Linksterroristen eingestuften Personen nachgewiesen wird. Im Fall von Irianna bestand die "Straftat" in der bereits erwähnten Liebesbeziehung und in der Tatsache, dass die besagte DNA-Probe vor dem Institut, in dem Irianna promoviert, gefunden wurde. Nicht unweit davon wurde auf dem Campus Waffenmaterial entdeckt, welches von der Justiz terroristischen Organisationen zugeordnet wird.

Wirtschaftlich und psychisch in den Ruin getrieben

Im weniger bekannten Fall gegen den dreiunddreißigjährigen Perikles handelt es sich um ein Lehrstück, wie das ständige Piesacken der Antiterrorpolizei einen Menschen in wirtschaftlichen, aber auch gesundheitlichen Ruin treiben kann. Auch bei ihm sind die Vorwürfe des eigentlichen Verfahrens nicht eindeutig belegbar. Die Verurteilung zu dreizehn Jahren Zuchthaus und sofortige Inhaftierung gab es trotzdem. Ebenso wie Irianna gab es auch hier eine zweifelhafte DNA-Probe und eine Freundschaft zum Lebensgefährten der jungen Frau.

Allerdings leidet der junge Mann nicht nur unter den psychischen Folgen der jahrelangen Hetzjagd, sondern auch unter ernsthaften, lebensgefährlichen Atemwegserkrankungen. Ein Aufenthalt in verrauchten oder feuchten Räumen ist für ihn lebensgefährlich.

Der Haftprüfungsprozess

Eigentlich hatten nicht nur die beiden Angeklagten, sondern auch ein großer Teil der Bevölkerung darauf gesetzt, dass beide Strafen bis zur Verhandlung der Berufung gegen Auflagen ausgesetzt werden. Schließlich ist dies in der Regel üblich.

Verurteilte Drogen- und Waffenhändler kamen auf diese Weise ebenso frei wie Wirtschaftsverbrecher. Aus gesundheitlichen Gründen befindet sich auch der frühere Verteidigungsminister Akis Tsochatzopoulos, dem Geldwäsche in Verbindung mit verjährter Bestechlichkeit vorgeworfen wird, auf freiem Fuß.

Es ist erwähnenswert, dass am vergangenen Montag eine der Hauptangeklagten aus dem so genannten Energa-Prozess weiterhin auf freiem Fuß gelassen wurde, obwohl die erstinstanzlich zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilte Frau durch Zerstörung der elektronischen Fußfessel und anschließende Flucht gegen ihre Auflagen verstoßen hatte. Das Gericht sah keinerlei weitere Fluchtgefahr.

Im Energa-Prozess geht es um einen Betrug in dreistelliger Millionenhöhe. Der private Stromanbieter Energa hatte von seinen Kunden die Stromrechnung samt der darin enthaltenen kommunalen und weiteren Steuern abkassiert, die Gelder aber auf Konten in die Schweiz gebracht, statt eigene Rechnung zu zahlen und die Abgaben weiterzuleiten.

Haarsträubende Aussagen

Bei der Verhandlung vor dem Berufungsgericht waren zahlreiche Unterstützer von Irianna und Perikles anwesend. Sie wurden vom Vorsitzenden verbal mehrfach zusammengestaucht, was bereits frühzeitig das Ergebnis des Prozesses vermuten ließ. Staatsanwalt und Richterkollegium meinten, dass Perikles im Gefängnis keine Atemprobleme haben könne, weil dort schließlich Rauchverbot herrschen würde und auch Gefängnisärzte vor Ort seien. Wer jemals eine griechische Haftanstalt - auch als Besucher - von Innen gesehen hat, weiß, dass dort mehr geraucht wird als an allen anderen Orten im ohnehin dem Tabakkonsum gegenüber liberalen Griechenland.

Es sei für Irianna kein Verlust, wenn sie ihre Promotion nun nicht fertig schreiben könne, meinte das Gericht. Der verantwortliche Staatsanwalt, Ioannis Provataris, der selbst bei den Angeklagten des Prozesses gegen die Goldene Morgenröte "keine Gefahr für das Begehen weiterer Straftaten sah", war im Fall von Irianna und Perikles der Meinung, dass beide erneut Straftaten begehen könnten. Es muss wie für Irianna Hohn geklungen haben, dass Provataris betonte, dass "gleiche Straftaten" wahrscheinlich wären.

Bei ihrer Verurteilung hatte die junge Wissenschaftlerin, gegen die außer dem vorliegenden Fall niemals eine Anklage, Anzeige oder Festnahme vorlag, sich den Vorwurf anhören müssen, "warum hast Du Dich nicht von Deinem Lebensgefährten getrennt".

Vom fünfköpfigen Richterkollegium folgten drei Richter den Ausführungen des Staatsanwalts, zwei wünschten die sofortige Freilassung der Angeklagten und wurden überstimmt. Direkt im Anschluss an das Urteil begannen vor dem Gerichtsgebäude an der Alexandras Avenue in Athen Proteste. Es kam zu Tränengaseinsätzen und Blendgranatwürfen der Bereitschaftspolizei. Später am Abend setzten sich diese Proteste im Athener Zentrum fort.

Es gab das übliche Bild der zerbrochenen Schaufensterscheiben und umgekippten Abfalleimer. Darüber hinaus hatte sich die Einsatzpolizei wie zuletzt unter Tsipras Vorgänger Antonis Samaras dazu entschlossen, die U-Bahnstationen in der Umgebung zu stürmen, um dort nach Demonstranten zu suchen.

Justizminister vs Justiz

Im Parlament kommentierte Justizminister Stavros Kontonis das Urteil. Er machte seinem Ärger darüber Luft, indem er die Entscheidung, aber auch die Ausschreitungen danach klar verurteilte. Kontonis kündigte an, dass in knapp zwei Monaten das gleiche Gericht "in einer anderen Zusammensetzung" über die beiden Fälle erneut beraten wird. Dies wiederum wird von Rechtanwälten, Justizkreisen und der konservativen Opposition als Ankündigung einer Einmischung in die Justiz gesehen. Gleichzeitig befindet sich die Regierung, die am umstrittenen Terrorparagraphen mit Verweis auf EU-Richtlinien festhält, im Kreuzfeuer der übrigen Opposition, welche ihr Bigotterie vorwirft.