Brauchen wir Nationalismus?

Zu schnell verleitet das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl auch dazu, Gruppen von Menschen ab- und auszugrenzen. Kommentar

Als Migrantin in Norwegen verwirrt mich oft die Frage: "Woher kommen Sie?" Wir sind vor drei Jahren aus Deutschland nach Norwegen umgezogen. Daher könnte die Antwort lauten: "Ich komme aus Deutschland."

Ich finde diese Antwort jedoch etwas amüsant, da ich zwar deutsche Staatsbürgerin bin, in Bezug auf meine ethnische Herkunft jedoch Ostasiatin. Ich wurde in China geboren und bin dort aufgewachsen. Nach der Schule ging ich nach Deutschland und absolvierte dort auch meine universitäre Ausbildung. Nachdem ich die letzten 20 Jahre vorwiegend in Deutschland, und jetzt auch in Norwegen, verbracht habe, schwindet zusehends meine nationale Bindung.

Wenn ich den Enthusiasmus im Gesicht der Fußballfans bei der diesjährigen Europameisterschaft sehe, fällt es mir daher inzwischen auch sehr schwer, mich in sie hineinzuversetzen. Aufgrund meiner persönlichen Erlebnisse wirkt das Konzept der Nation wie ein Konstrukt, das nur innerhalb bestimmter historischer und politischer Rahmenbedingungen am Leben gehalten wird. Insbesondere da Technologie, Kommunikation und Wissenstransfer heutzutage zu einer immer weiteren Auflösung der nationalen Grenzen führt.

Meine Tochter ist jetzt fünf Jahre alt und wenn man ihr die Frage stellen würde, woher sie kommt, würde sie mit ziemlicher Sicherheit sagen: "Aus Norwegen." Ein Großteil ihres Lebens, Kindergarten, Freunde, das Zuhause, spielen sich hier ab. Auch wenn es mich manchmal befremdet, halte ich es nicht für falsch, wenn ein Kind mit gewissen Elementen (inkl. einer Nation oder einem Ort) in Verbindung steht, damit es in der Anfangsphase der Identitätsbildung nicht verwirrt ist oder verloren fühlt.

Dennoch frage ich mich manchmal, ob sie als Erwachsene mit einem offensichtlich multiethnischen Hintergrund, der Vorfahren aus Deutschland, Frankreich, Schweiz, China und Nordafrika einschließt, sich immer noch primär als Norwegerin sehen würde.

Auch wenn es hier um einen speziellen Fall zu gehen scheint, so ist eine Multiethnizität heutzutage weder ein Einzelfall noch etwas Besonderes. Die enge Bindung zu dem Ort, an dem wir aufwachsen, zu den Menschen, die uns in der Kindheit sehr nah gestanden sind, ist sicherlich zutiefst menschlich und universal. Allerdings könnte eine ebensolche Heimatverbundenheit gepaart mit einem starken Nationalbewusstsein gleichzeitig für Unbehagen sorgen.

Zu schnell verleitet dieses nationale Zusammengehörigkeitsgefühl nämlich auch dazu, Gruppen von Menschen ab- und auszugrenzen. Dann nämlich, wenn die kindliche Naivität verloren geht und der Wunsch nach Geborgenheit und Sicherheit nicht mehr primär ist. Eine immer stärkere Internationalisierung einerseits und ein immer stärker werdender Nationalismus andererseits gehören wohl zu den großen globalen Paradoxen unserer Zeit.

Die massiven Herausforderungen lassen sich nur global bewältigen

Wenn wir einen Blick auf die gewalttätigen Auseinandersetzungen und Kriege der letzten hundert Jahre werfen, fällt auf, dass die allermeisten von ihnen auf Konflikte zwischen verschiedenen Nationen, Ethnien, oder Religionen zurückzuführen sind. In diesem Kontext stellt sich eine provokante Frage: Was ist überhaupt gut daran, loyal zu einer Nation zu sein? Vor allem heutzutage, da kein einziges Land ohne jeglichen Austausch mit einem Anderen überleben würde und die Menschheit vor massive Aufgaben gestellt ist, die nur gemeinsam bewältigt werden können?

Hier lässt sich nun wieder der Bogen zum gegenwärtigen durch das Coronavirus bedingten Ausnahmezustand spannen. Als das Ausmaß des Ausbruchs in Wuhan und die potenzielle Bedrohung durch das Coronavirus Anfang 2020 hätten bekannt sein müssen, reagierten die europäischen Länder dennoch träge.

Erst ging man davon aus, dass das Virus ein chinesisches Problem bleiben würde. Als die Infektionszahlen in Italien stiegen, machten dennoch viele Nordeuropäer in Tirol Winterurlaub. Das Ende der Geschichte ist bekannt. Ein Virus respektiert keine nationalen Grenzen und Befindlichkeiten. Die Folge war, dass nachdem mehr und mehr lokale Ausbrüche festgestellt wurden, eine große Mehrheit der Länder ihre Grenzen schlossen, strikte Reiseeinschränkungen einführten sowie komplexe Präventionsmaßnahmen.

Allerdings blieb es auch hier meist bei nationalen Alleingängen, was dazu führte, dass Entscheidungen oft nur lokal getroffen wurden, sei es auf Ebene der Kommune, des Bundeslands oder einzelner Staaten. So wurde es zu einem Kampf jeder einzelnen Nation gegen die Pandemie und ein kohärentes Vorgehen als Staatengemeinschaft war selten wahrzunehmen.

Dabei scheint offensichtlich, dass die wirtschaftliche Stärke einzelner Länder wenig den Erfolg oder Misserfolg der eingeführten Maßnahmen beeinflusste. Wenn eine Kollaboration der einzelnen Nationen jedoch schon bei einer zeitlich begrenzten Pandemie scheitert, wie sieht es da mit wirklich langfristigen und zeitlich unbegrenzten Aufgaben aus?

Sind einzelne Nationen überhaupt in der Lage, mit globalen Themen wie der Rohstoffverknappung und Umweltverschmutzung sowie dem Klimawandel umzugehen? Die Corona-Pandemie offenbart eindrücklich, dass eine vorwiegend lokale Betrachtung dieser Probleme nur schwerlich zu einer nachhaltigen globalen Lösung führt.

Leider scheint nach wie vor vielen Politikern bzw. auch den Staatsbürgern eine breitere bzw. langfristige Vision für das gemeinsame Zusammenleben auf diesem Planeten, die über nationale Grenzen hinweggeht, zu fehlen. Stattdessen beschäftigen sich die Mehrheit der Menschen immer noch mit Gedanken bzw. Fragen, die nur sie selbst bzw. ihr eigenes Land betreffen.

Als Methode der Müllentsorgung werden weiterhin Abfälle von Deutschland nach Südostasien exportiert, getreu dem Motto: "Aus den Augen, aus dem Sinn." Als die Sandstürme in Nordchina diesen Frühling deutlich stärker ausfielen als üblich, verlangten koreanische Einwohner Entschädigungszahlungen aus China, da die schlechte Luftqualität ihren Alltag bzw. ihre Gesundheit erheblich beeinträchtigt hätte.

China wiederum schob die Schuld auf die Mongolei. Beispiele dieser Art gibt es reichlich. Allen gemein ist jedoch, dass anstelle sich des Problems gemeinsam anzunehmen, die Verantwortung nur allzu gerne auf andere Nationen abgeschoben wird.

Ich hoffe, dass sich im Laufe der nächsten Jahre oder zumindest Jahrzehnte ein breiteres bzw. offeneres Verständnis des manchmal ambivalenten Begriffs der Nation manifestieren wird, das uns und unserem Planeten mehr nützt als eine auf sich fokussierte Sichtweise der für sich alleinstehenden Nation, an der viele von uns sich immer noch festzuhalten scheinen.