"Wir brauchen in Europa endlich gemeinsame Sicherheit"

Prorussischer Rebell nahe der Frontlinie mit der ukrainischen Armee bei Dokuchaevsk in der Ostukraine, Juni 2015. Bild: Mstyslav Chernov, CC BY-SA 4.0

Angelika Claußen zur Lage in der Ukraine, Putins Verantwortung und Bidens Beitrag sowie eine vergessene Vereinbarung von 1990

Dr. med. Angelika Claußen ist Co-Vorsitzende der IPPNW – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzt:innen in sozialer Verantwortung e.V. und Präsidentin der IPPNW Europa. Ihre Schwerpunktthemen sind die Verknüpfung von Friedenspolitik und Klimapolitik sowie der Bereich Atomwaffen. Angelika Claußen hat 2012 mit ihrer Studie "'Peace through Health' als modernen Ansatz des konstruktiven Pazifismus" einen Master in Friedenswissenschaften erworben. Am 3. März 2018 wurde Dr. Angelika Claußen mit dem Bielefelder Frauenpreis ausgezeichnet.

Frau Claußen, Sie wenden sich in einem Appell zur schwelenden Nato-Russland-Krise an die Bundesregierung mit der Aufforderung, eine diplomatische Lösung zu unterstützen. Russland hat nach westlichen Angaben über 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine mobilisiert. Müsste sich ein Appell nicht an Moskau richten?

Angelika Claußen

Angelika Claußen: Beim Ukraine-Konflikt handelt es sich um ein geopolitisches Kräftemessen, das im Zusammenhang der Konkurrenz der drei Weltmächte USA, China und Russland steht. Die Drohgebärden Russlands mit seiner Truppenkonzentration zielt auf die USA und das Nato-Militärbündnis, in dem die USA Tonangeber sind.

Deutschland spielt im Rahmen des Nato-Bündnisses eine zentrale Rolle, weil es gemeinsam mit dem Bündnismitglied Frankreich mäßigend und warnend auf die USA einwirken kann, mit der Botschaft:

Die Menschen in Europa wollen keinen Krieg und auch keine militärische Eskalation. Sie möchten Transformation des Ukraine-Konflikts und eine dauerhafte Friedensordnung in Europa. Mit Militär und Krieg lassen sich Konflikte nicht transformieren.

In dem Aufruf sprechen Sie rechtliche Verpflichtungen der Bundesregierung an. Welche wären das?

Angelika Claußen: Da ist zum einen der "Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit" aus dem Jahr 1990 der unverändert noch gilt. Art. 7 lautet:

Falls eine Situation entsteht, die nach Meinung einer Seite eine Bedrohung für den Frieden oder eine Verletzung des Friedens darstellt oder gefährliche internationale Verwicklungen hervorrufen kann, so werden beide Seiten unverzüglich miteinander Verbindung aufnehmen und bemüht sein, ihre Positionen abzustimmen und Einverständnis über Maßnahmen zu erzielen, die geeignet sind, die Lage zu verbessern oder zu bewältigen.

Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Gespräche im Sinne dieser Verpflichtungen zu intensivieren.

Hinzu kommt: Wichtige einzuhaltende völkerrechtliche Verpflichtungen für die Lösung des aktuellen Konflikts ergeben sich insbesondere aus den Grundsätzen der UN-Charta zur friedlichen Streitbeilegung (Art. 2 Ziff. 3) und zum Gewaltverbot (Art. 2 Ziff. 4). Sie folgen auch aus der Nato-Russland-Grundakte vom 27. Mai 1997.

Demnach unterliegt die dauerhafte Stationierung von substanziellen Kampftruppen in den neuen Nato-Ländern in der Mitte und im Osten Europas vertraglich geregelten völkerrechtlichen Beschränkungen. Die jetzt praktizierte lückenlose Rotation von Nato-Truppen an der Nato-Ostgrenze unterläuft Verpflichtungen des Abkommens.

Hinter dem Konflikt steht die Osterweiterung der Nato. Befürworter des Nordatlantikpaktes verweisen darauf, dass es nie eine rechtliche Verpflichtung gegeben hat, von einer Einbindung osteuropäischer Staaten abzusehen. Diese Version wird von der Historikerin Mary E. Sarotte nach Archivrecherchen bestätigt.

Angelika Claußen: Aber es gab während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen das Versprechen des Westens, die Nato nicht nach Osten auszudehnen – wenn auch keine völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung.

Die russische Regierung hat immer klargemacht, dass sie eine Ausdehnung der Nato bis an ihre Grenzen nicht dulden wird. Trotzdem gab die Nato beim Gipfel in Bukarest 2008 der Ukraine und Georgien das Signal, die Beitrittstür stehe offen.