Wenn Russen nicht in der Ukraine kämpfen wollen

Abwesenheit kann auch eine Tugend sein. Denkmal für die Deserteure aller Kriege in Stuttgart. Foto: Kamahele / CC-BY-SA-3.0-DE

Weil offiziell kein Krieg ist, können russische Befehlsverweigerer strafrechtliche Konsequenzen verhindern. Sie sind zahlreicher außerhalb der regulären Armee

Es gibt keine Statistik, wie viele russische Soldaten, Nationalgardisten oder Verbündete sich genau weigern, an der Invasion der Ukraine teilzunehmen. Oder wie viele auf eigene Faust ihre Beteiligung am Feldzug abbrechen. Geschildert werden vor allem in Sozialen Netzwerken wie Telegram Fälle mit insgesamt etwa 1.000 Beteiligten - einige sind gut belegt, andere weniger.

Darüber berichten dürfen noch zugelassene russische Medien in Folge der Militärzensur kaum, weshalb sich zu diesem Thema vor allem in der oppositionellen Presse, die in Russland bereits gesperrt wurde, Artikel finden.

Am spektakulärsten wa im Mai die Verweigerung von 115 Kämpfern der Rosgwardija, der russischen Nationalgarde, aus der zur Föderation gehörigen Republik Kabardino-Balkarien.

Sie weigerten sich - der Fall wurde als einer von wenigen auch in der regierungsnahen Nachrichtenagentur Interfax aufgegriffen - dem Befehl zum Abrücken ins Nachbarland Folge zu leisten und blieben an ihrem normalen Dienstort.

Gegen die Gardisten wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das mit ihrer Kündigung bei der Nationalgarde endete, wogegen sie erfolglos vor Gericht zogen. Spektakulär war dieser Fall vor allem durch die große Anzahl der Verweigerer. Im südrussischen Krasnodar kam es im März bereits unter ähnlichen Umständen zur Kündigung von zwölf Gardemitgliedern der OMON-Sondereinheit, die ebenfalls auf Wiedereinstellung klagten.

Fehlender offizieller Krieg verhindert strafrechtliche Konsequenzen

Solche gerichtlichen Klagen sind möglich, aber wenig erfolgversprechend. Günstiger sind aber die Aussichten, strafrechtliche Folgen für die Verweigerung zu verhindern. Anwaltlich vertreten werden mehrere Dutzend Verweigerer von dem Moskauer Rechtsanwalt Maxim Grebenjuk, den die lettische Onlinezeitung Meduza dazu interviewte. Sonst vertritt er aktive Soldaten bei der Durchsetzung ihrer Rechte.

Seine Tätigkeit ist für ihn nicht ungefährlich. Er selbst gibt zu, dass auch er Angst hat, zum Opfer eines Strafverfahrens zu werden, wie es bereits Anwälten bekannter Oppositioneller ergangen ist. Während beim russischen Feldzug in Syrien die Rechte russischer Soldaten laut Grebenjuk kaum verletzt wurden, hat er seit Beginn der Ukraine-Invasion eine Vielzahl von Mandanten.

Gerade die Tatsache, dass die russische Regierung diese Invasion nicht als Krieg betrachten will, eröffnet dem Anwalt die Möglichkeit, juristisch gegen strafrechtliche Folgen einer Befehlsverweigerung seiner Mandanten vorzugehen. Den ein formelles Verbrechen ist der militärische Ungehorsam eben nur in einem Krieg, der bisher von russischer Seite nicht erklärt wurde. Vielmehr ist es in Russland ja sogar verboten, die Ukraine-Invasion als solchen zu bezeichnen.

In Friedenszeiten ist es recht problematisch, wegen Befehlsverweigerung strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Ich will nicht behaupten, dass ein Strafverfahren nicht eingeleitet werden kann. Die Nichtbefolgung eines Befehls ist aber nur dann strafbar, wenn sie materielle Konsequenzen nach sich zieht oder der Kampfauftrag gestört wird.


Rechtsanwalt Maxim Grebenjuk gegenüber Meduza am 27. April 2022

Um die Strafbarkeit einer Befehlsverweigerung außerhalb von Kriegszeiten nachzuweisen, müsste das russische Militär laut Grebenjuk offenlegen, welcher Kampfauftrag dadurch vereitelt wurde. Gerade solche Daten sollen über Russlands Feldzug aktuell aber nicht an die russischen Medien gelangen, weshalb darauf verzichtet wird.

Zur Androhung von Strafverfahren käme es laut Grebenjuk dennoch in kämpfenden Truppen, um die Verweigerung von Kampfeinsätzen von vornherein zu verhindern.

Frühes Motiv des überraschenden Krieges

Die oppositionelle Onlinezeitung Media.zona berichtet in der Region Südrussland von insgesamt etwa 500 Gardisten, die sich geweigert hätten, zum Kampf in die Ukraine zu ziehen. Dass es gerade in der Rosgwardija mehrere solcher Fälle gibt, hat einen einfachen Hintergrund. Die Aufgaben dieser Truppe liegen eigentlich im Inneren Russlands, beim Schutz vor Terroristen, oder öffentlichen Sicherheit, staatlicher Einrichtungen und beim Grenzschutz.

Zwar hat die Garde auch militärähnliche Ausrüstung, ist jedoch nicht für den Kampfeinsatz gegen andere Armeen konzipiert. So kam es für viele Mitglieder der Russischen Garde sehr überraschend, als sie in ein reales Kriegsgeschehen hinein befohlen wurden. In vielen Schilderungen wird übereinstimmend berichtet, dass die Versetzung in die Ukraine erfolgte, ohne dass den Soldaten vorher bewusst gewesen sei, was ihnen bevorsteht.

Ein 23-jähriger Vertragssoldat, vergleichbar mit deutschen Zeitsoldaten, schilderte gegenüber dem russischsprachigen Dienst der BBC in diesem Monat, dass er zwei Tage vor Kriegsausbruch zunächst erfuhr, dass man näher an die Grenze vorrückte - offiziell war aber all das Teil einer Militärübung.

In der Nacht zum Kriegsbeginn wurden er und seine Kameraden in ihren Schützenpanzer befohlen und merkten erst beim Auftauchen ukrainischsprachiger Straßenschilder, dass sie sich nicht mehr im eigenen Land befanden. "Wir gingen ins Manöver und landeten im Krieg" ist eine Aussage, die laut der BBC russische Kriegsgefangene in der Ukraine häufig gemacht haben sollen.

Niemand wollte glauben, dass das ein Krieg war. Warum waren wir hierher gekommen? Zu dieser Zeit war noch kein Schuss gefallen. Wir haben bis zuletzt nicht an Krieg geglaubt.


Russischer Vertragssoldat gegenüber der BBC

Andere Soldaten kamen mit völlig falschen Erwartungen auf ukrainisches Gebiet. Von einem Gerichtsprozess gegen einen Journalisten, der über Befehlsverweigerer aus der zu Russland gehörenden Republik Chakasien geschrieben hatte, berichtet die sibirische Onlinezeitung tayga.info. Sie schildert aus dem Prozess gerichtliche Aussagen von Gardisten.

Diese erzählten, dass sie erst drei Tage vor Kriegsausbruch informiert wurden, dass man sie in ukrainisches Gebiet versetzen würde, wo es eine Militäroperation geben würde. Ihre Aufgabe würde die Bewachung und Verkehrsregelung von Straßen und Kreuzungen in Kiew sein. Sie seien gemeinsam mit Militäreinheiten in Richtung Ukraine abgerückt und dann in Kampfhandlungen verwickelt worden, statt in Straßenkontrollen.

Berichte wie aus der Rosgwardija gibt es auch über Gruppen von Armeesoldaten, obwohl diese bei den regulären Truppen seltener sind, da die Vertragssoldaten von vorne herein eher mit realem Kampf rechnen. Im April sollen sich dennoch in Pskov 60 Soldaten geweigert haben, im Nachbarland zu kämpfen. Sie seien auf eigene Faust in ihre Garnison zurückgekehrt. Auch sie wurden entlassen.

Die vorzeitigen Heimkehrer nach Südossetien

Der spektakulärste Fall von Kriegsheimkehrern auf eigene Faust fand jedoch Ende März statt. Es handelte sich um Südosseten, Soldaten einer von Georgien abtrünnigen Provinz. Die Osseten gelten als prorussisch und wollen sich mit der zur Russischen Föderation gehörigen Republik Nordossetien vereinigen.

So schickte das kleine Südossetien Mitte März zur Unterstützung der russischen Verbündeten Soldaten in den Ukraine-Krieg. Formal handelte es sich also um mitkämpfende Verbündete der Russen, die jedoch wie ihr Land komplett von russischem Wohlwollen und russischer Ausrüstung abhängig sind.

Vor Ort angekommen, erhielten sie nach eigener Aussage kaum oder nur sehr schlechte Ausstattung, so dass sie sich Splitterschutzwesten auf eigene Kosten anschafften. Laut dem russischen Regierungsmedium Sputnik Südossetien versorgte sogar die Heimat sie mit "humanitärer Hilfe" in Form von Lebensmitteln, Kleidung und militärischer Ausrüstung. Auch das südossetische Innenministerium steuerte Uniformen bei.

All das führte nicht zu mehr Zufriedenheit beim Hilfskontingent. Die Rückkehr einer Reihe dieser Freiwilligen wurde vom damaligen Präsidenten Südossetiens, Eduard Kokoity, Ende März auf seinem Telegram-Kanal bestätigt.

Die Rede ist in verschiedenen Quellen von 300 zurückgekehrten Soldaten. Sie gaben an, zurückgekehrt zu sein, da sie von den Russen als Kanonenfutter eingesetzt worden seien. Sie seien in den sicheren Tod geschickt worden und hätten fünf Tage in aussichtsloser Position mit großen Verlusten gekämpft, was sie beweisen könnten.

Dass die Kampfmoral der russischen Truppen in der Ukraine generell sehr niedrig sei, lässt sich jedoch aus den Befehlsverweigerungen vor allem zu Beginn der Ukraine-Invasion nicht schließen. Auch gegenüber dem ZDF gab ein Anwalt, der Verweigerer vertritt, auf Fragen der Journalisten an, er könne aus seiner Tätigkeit keinerlei Aussagen zur generellen Kampfmoral treffen.

Diese steht und fällt – wie in jedem Krieg – mit Erfolg und Misserfolg des eigenen Feldzugs und der persönlichen Lage der kämpfenden Soldaten. Und weniger damit, ob für eine wirklich "gerechte Sache" gefochten wird.