Zukunft der EU: Militärische Großmacht oder globale Friedenskraft?

EU am sicherheitspolitischen Scheideweg. Krieg in der Ukraine scheint sie in langfristige Aufrüstungsphase zu zwingen. Aber wie zwangsläufig ist diese Aufrüstungsdynamik wirklich und welche sicherheitspolitischen Alternativen gäbe es?

Von Europa ausgehend nahm sowohl die Aufklärung als auch die Kolonialisierung ihren Anfang. Europa ist der Ort, an dem sich Nationen in Dutzenden blutiger Kriege auf das Heftigste bekämpft haben – eine historische Tatsache, deren schreckliche Erfahrungen aber auch die Voraussetzung für den Versuch waren, miteinander in weiten Teilen Europas friedlich zusammenzuarbeiten und transnationale Strukturen in Form der Europäischen Union zu bilden.

Wäre daher Europa als Kontinent und als Europäische Union nicht besonders geeignet, die Friedenssache voranzubringen? Die historische Rolle vieler europäischer Staaten im Rahmen der damaligen KSZE-Verhandlungen stimmt zunächst optimistisch, dass Europa grundsätzlich dazu in der Lage wäre, zur weltweiten Entspannung beizutragen.1

War der Friedensnobelpreis für die EU berechtigt?

Die EU erhielt 2012 den Friedensnobelpreis für ihre friedenssichernde Funktion und ihre multilateralen Vermittlungsaktivitäten. Die Frage ist allerdings noch nicht entschieden, ob dieser Friedensnobelpreis zu Recht vergeben wurde. Entscheidend bei der Klärung dieser Frage dürfte sein, inwieweit die EU sich in Zukunft militarisieren und versuchen wird, ihre globalen politischen und ökonomischen Interessen primär mit militärischer Gewalt durchzusetzen und zu sichern.

Der Politikwissenschaftler Werner Ruf analysierte die Beziehung zwischen der auch von der EU betriebenen neoliberalen Öffnung der Märkte in den nordafrikanischen Staaten, wie etwa Tunesien oder Marokko, und der durch den Wegfall von Schutzzöllen und europäischer Marktinvasion bedingten schleichenden Enteignung der Bewohner.

Diese Enteignung ging einher mit der Verringerung der staatlichen Steuerungsfähigkeit in diesen Ländern, den durch die extreme Absenkung des Lebensstandards maßgeblich bedingten Migrations- und Fluchtbewegungen und dem damit verbundenen Aufbau der Festung Europa. Er fasst seine Analyse wie folgt zusammen2:

Die Öffnung der Märkte liefert die Bausteine für die Transformation Europas zur Festung, die beschworenen gemeinsamen Werte geraten zu einer immer durchsichtigeren Tünche, die die Doppelstandards des Menschenrechtsdiskurses und die zunehmende Militarisierung des einstigen Friedensprojekts immer schlechter kaschieren kann.

Ruf 2018, 101

Angesichts dieser problematischen Entwicklung gelte es, der ursprünglichen Friedensidee Europas, die letztlich die ethische Fundierung im normativen Selbstanspruch der Gründungsphase der europäischen Vereinigung war, tatsächlich Geltung zu verschaffen und auch der Verleihung des Friedensnobelpreis eine Realität friedensschaffender Maßnahmen folgen zu lassen.

Dies hätte zunächst bedeutet, dass die seit spätestens 2010 festgefahrenen OSZE-Verhandlungen wieder belebt werden und sich eine verbindliche Agenda geben müssten. Hier hätte an eine friedensstiftende Verhandlungstradition angeknüpft werden können, die dann auch zu einem wesentlichen Bestandteil einer positiven europäischen Identität im weltbürgerlichen Bewusstsein werden könnte.

Doch die russische Aggression gegen den ukrainischen Staat3, lässt dies wohl in weite Ferne rücken. Sicherlich kann die EU nicht zulassen, dass ein Staat zerstört und ein Volk abgeschlachtet wird. Daher ist es völkerrechtlich notwendig und moralisch gerechtfertigt, dass die EU-Staaten die Ukraine u.a. militärisch unterstützen.

Doch die Unterstützung der Ukraine im Widerstand gegen einen bewaffneten russischen Aggressor müsste gleichzeitig von einer geschlossenen Verhandlungsmacht der EU und entsprechenden Verhandlungsangeboten an die am Krieg beteiligten Akteure begleitet sein. Nur über die Verbindung von einer umfassenden Unterstützung der sich wehrenden Ukraine im Sinne der UN-Charta und beständig angebotenen Verhandlungsoptionen durch die EU an beide Seiten ist ein Waffenstillstand und die gemeinsame Entwicklung eines Friedensplans bzw. einer europäischen Sicherheitsordnung möglich.4

Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok?

Erst nach der Beendigung des Ukraine-Kriegs könnten Ansatzpunkte für kommende OSZE-Verhandlungen zunächst im Verbot von Waffenexporten in Spannungsgebiete liegen – abgesehen von der Unterstützung angegriffener Staaten.

Das größere Projekt aber liegt dann sicherlich in der Abrüstung der Vertragsstaaten über die (Re)Installierung entsprechender Abrüstungsverträge – auch in Verhandlung mit Staaten außerhalb der OSZE. Natürlich gehört hierzu auch die Ratifizierung des von der Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) vorangetriebenen UN-Verbotsvertrags für Nuklearwaffen im Rahmen einer internationalen Ratifizierungsbewegung.

Dies wäre auch dringend notwendig: Die USA planen den größten Rüstungsetat seit ihrem Bestehen. Russland kündigt ein neues Programm für urangetriebene Atomraketen an, die jeden Ort auf der Erde erreichen und nationale Verteidigungsmaßnahmen umgehen können. China investiert einen großen Teil seines für ökologische und soziale Maßnahmen erforderlichen Staatshaushalts in die Rüstung.

Saudi-Arabien investiert seine Ölmilliarden in der Auseinandersetzung mit dem Iran und dem Stellvertreterkrieg im Jemen in Waffentechnik. Die USA und Russland haben einen Teil ihrer nuklearen Abrüstungsverträge aufgekündigt. Frankreich und GB arbeiten an der Modernisierung ihrer Nuklearwaffen.

Gerade die Voraussetzungen und die Entwicklung im Krieg in der Ukraine zeigen die Problematik der nuklearen Bedrohung bei einem konventionell geführten Krieg. Unverhohlen droht die russische Regierung mit dem Einsatz von Atomwaffen, indem sie die Einsatzbereitschaft ihrer Nuklearwaffen im Zuge des Kriegs in der Ukraine demonstrativ erhöht hat. Putin droht zu Beginn des Kriegs offen damit, dass jeder – so auch dann Europa – der sich einmische und Russland bedrohe, etwas erleben werde, dass er historisch noch nie erlebt habe.5 Die nukleare Gefahr zeigt sich allerdings im Ukraine-Krieg in doppelter Perspektive: Als Bedrohung durch Atomwaffen und als Gefährdung der Kernkraftwerke, die zur Waffe im Krieg werden.6

Der österreichische Friedensforscher Thomas Roithner stellt fest, dass sich Europa, angelegt durch den Vertrag von Lissabon (2007) in die Reihe der politischen Mächte einzuordnen versucht, die hochrüsten, und entwickelt hier gegen gewandt einen Vorschlag für ein ziviles Kerneuropa (Roithner 2020, 213f.). Auch der deutsche Politikwissenschaftler Werner Ruf geht davon aus, dass die EU sich auf dem Weg zu einem militärischen Global Player begeben möchte7 und fordert eine sicherheitspolitische Rückkehr im Sinne von diplomatischer Friedenssicherung und unterstützender Entwicklungspolitik ein. Er fordert noch weitergehender sogar eine Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok.

Diese Vision wendet der ehemalige russische Präsident und aktuelle Vize-Chef des russischen Sicherheitsrat Dmitri Medwedew ebenfalls an und bezieht sich hierbei auf eine nationalchauvinistische Sichtweise aus russischer Perspektive. Er vergleicht die Ukraine mit dem Dritten Reich. Der Zusammenbruch dieses nazistischen Systems könne die Befreiung für ein "offenes Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok" sein.8 Hier wird deutlich, dass die Forderung nach einem eurasischen Friedensraum nur anzustreben ist, wenn dies tatsächlich transnational gedacht und unabhängig von nationalchauvinistischer Verformung entwickelt wird.

Wie wird sich Europa nun verhalten?

Wird Europa ebenfalls weiter hochrüsten oder eine friedensstiftende Macht sein, die ihre politische und ökonomische Macht auf diplomatischem Wege friedensbewahrend einsetzt? Wie wird sich ein Staat, wie z.B. die ökonomisch starke Bundesrepublik Deutschland, hier einbringen – als Vertreter von Diplomatie und Multilateralität oder als Vertreter einer Militarisierung der EU?9

Wird die EU in Auseinandersetzung mit den globalen Großmächten (USA, Russland, China) sich dafür einsetzen, dass Atomsprengköpfe und Trägerraketen verringert werden bis hin zum völligen Verbot nuklearer Waffen, Tellerminen verboten, chemische und biologische Waffen weiterhin vernichtet werden, die konventionelle Rüstungsindustrie sich in eine Friedensindustrie konvertiert?

Wird die EU den Export von Waffen in Spannungsgebiete verbieten oder ihn weiter wie bisher betreiben? Wird die EU darauf bestehen, dass Staaten, Gruppierungen und Unternehmen, die zur Umweltzerstörung durch den Einsatz von Waffentechnik beitrugen, zur Finanzierung der Schadensbeseitigung herangezogen werden? Oder wird die EU die Rüstungsindustrie im Rahmen ihrer Taxonomie als nachhaltig einstufen und den Nachhaltigkeitsbegriff erneut pervertieren?

Wird die EU ihre im Rahmen von GASP und Pesco10 angestrebte Erhöhung der nationalen Wehretats auf einen Anteil von 2 Prozent am Bruttoinlandsprodukt zugunsten eines höheren Etats für internationale Entwicklungsaufgaben aufgeben? Wird ein Abbau eigenständiger nationaler militärischer Strukturen zugunsten europäischer Verteidigungsbemühungen zur aggressiven Militarisierung der EU oder zu einer erheblichen Friedensdividende führen, mit deren Erlös die globalen Probleme angegangen werden können? Oder wird die EU den russischen Überfall auf die Ukraine zu einer langfristig angelegten Aufrüstung nutzen zulasten der Entwicklungsförderung?

Lässt sich die Finanzierung des Future Combat Air System (FCAS) mit einer Kombination aus Atomwaffen tauglichen Tarnkappenbombern, begleitenden Drohnenschwärmen sowie digital vernetzten Kampfmitteln wie Kriegsschiffen und Panzern neuerer Generation noch verhindern, welches der Rüstungsindustrie Milliardengewinne beschert und die Zukunftsressourcen Europas mit diesem gigantischen Zerstörungsprogramm an militärische Destruktivität bindet?

Von der Beantwortung dieser Fragen wird die Beurteilung abhängen, ob die Verleihung des Friedensnobelpreises für die Europäische Union vorschnell oder tatsächlich berechtigt gewesen war.

Auf jeden Fall liegt in der Europäischen Union immer noch eine große Chance begründet, nationalstaatliche Grenzen – trotz aller Rückschläge – Schritt für Schritt zugunsten einer transnationalen Regionalisierung zu überwinden, damit einerseits die nationalstaatlichen bzw. nationalchauvinistisch begründeten Kriegsideologien innerhalb Europas weiterhin zu entschärfen und andererseits zu einer transnationalen und überregionalen Handlungsperspektive hinsichtlich einer globalen Sicherheitspolitik zu finden. Eine weitere Aufrüstung und Militarisierung der EU ist – auch im Zuge des Ukraine-Kriegs – nicht als zwingend anzusehen.

Kein anderer transnationaler Staatenverbund im globalen Kontext weist eine derartige Historie gemeinsamer Verständigung, einer Abkehr von zwischenstaatlicher Aggression bei gleichzeitiger Entwicklung gemeinsamer demokratischer Institutionen und Verfahren wie die EU auf. Hierbei spielt sicherlich das historische Gedächtnis der EU-Staaten eine zentrale Rolle, die in den letzten Jahrhunderten vielfach erlebt haben, wie vernichtend sich militärische Aggression auf das Zusammenleben der europäischen Staaten auswirkte.