Medienreale Skandale: Wer kann mit wem, in welchem Format sprechen?

Ralf Stegner, SPD: Mit wem darf er sprechen? Bild: Frank Schwichtenberg, CC BY-SA 3.0

Ein Auftritt von Ralf Stegner bei Ralf Schuler: Der Skandal, der Einsatz der Sprach- oder Sitten-Medienpolizei und die Frage nach inhaltlichen Unterschieden zwischen dem rechten und linken Ralf.

Der SPD-Politiker und Bundestagsabgeordnete für Pinneberg, Ralf Stegner, bekannt für oft demonstrativ eigene Positionen, hat dem deutlich konservativen Journalisten Ralf Schuler ein knapp einstündiges Interview gegeben, das am 19. März in der Rubrik "Schuler! Fragen, was ist" auf YouTube veröffentlicht wurde.

Auf Plattformen wie Twitter gibt es seitdem Auseinandersetzungen, inwiefern Stegner mit diesem Interview sinnvoll gehandelt habe in einem Format, das zur Mediengruppe von Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt gezählt werden kann (Produktionsfirma Rome Medien).

Bisher waren dort von Schuler Personen aus Union (wie Kristina Schröder) und FDP (wie Wolfgang Kubicki) befragt worden. Also von Parteien, die mit Stegners SPD koalierten und koalieren. Dennoch ist die direkt-mediale Aufregung in diesem Falle beträchtlich, anscheinend nicht zuletzt aus manchen Juso-Kreisen.

Die Aufregung

Warum die Aufregung? Es finden sich bei Leuten, die Stegners Auftreten mit Schuler kritisieren, Punkte wie, Meinungsfreiheit bedeute eben, dass man auch Widerspruch oder Unmutsbekundung erfahren dürfe. Zitat:

"Wenn man es Scheiße findet, wenn jemand bei der Reichelt-"Medien" auftritt, dann darf man das auch sagen."

Es gehe nicht unbedingt um die Person des Interviewers Ralf Schuler. Sondern es gehe vielmehr um das " Rome Medium" und damit um den Medienschaffenden Julian Reichelt. Denn dem Ex-Bild-Chef gehe es einzig darum, "gegen SPD und Grüne zu sein". Der "Skandal" sei nicht der Inhalt des Gespräches, bringt Nutzerin Annette Heinisch es auf ihren Punkt, sondern bereits "das Gespräch an sich".

Der Journalist Jan Alexander Karon wiederum, offenbar hier Teil des Teams von "Schuler! Fragen, was ist", schreibt auf Twitter, er finde es natürlich "nicht skandalös, dass ein SPD-Urgestein konstruktiv mit uns spricht". Skandalös sei vielmehr, dass es Leute gebe, "die das allen Ernstes skandalisieren wollen".

Beide Seiten, die hier aufeinanderstoßen, werfen sich also gegenseitig per Skandalisierung einen Skandal vor. Soweit normal unter dem Gesichtspunkt der Aufmerksamkeitsökonomie in Medien und gerade im Netz. Der – tatsächliche oder auch nur vermeintliche – Skandal bringt Clicks und damit Geld, auf beiden Seiten der jeweiligen Barrikade.

Medienrealität

Das scheint nicht untypisch im Bereich dessen, was sich wissenschaftlich als "Medienrealität" oder "Medienwirklichkeit" bestimmen lässt: Diese Konzepte beschreiben in der Journalismustheorie/Publizistik oder auch in den Kommunikations- und Medienwissenschaften, dass und wie Realität in Medien dargestellt wird. Und inwiefern damit gewissermaßen neue, weitere Realität geschaffen wird, eben "Medienrealität" als eine Realität durchaus eigener Ordnung.

Es gibt ja Bereiche von Wirklichkeit, die wir kaum anders erfahren können als durch Medien vermittelt. Das wären gleichsam "medienreale" Phänomene und Erfahrungen: Einerseits nicht komplett "subjektiv" im Sinne von "Alle Menschen leben halt in ihrer jeweils eigenen Wirklichkeit" – dafür sind Medien offenbar viel zu wirkmächtig – ; aber auch nicht auf eine Weise unmittelbar "objektiv" und erfahrbar wie der Tisch, auf dem ich gerade schreibe und den ich anfassen kann. Eben "medienreale" Erscheinungen als eine fast schon eigene Welt.

Und damit zurück zu den "Skandalen": Denn solche gerade sehr "medienrealen" Skandale und Skandalisierungsvorwürfe verbinden zwei Nachrichtenfaktoren, die es laut Mari Holmboe Ruge und Johann Galtung gerade im Globalen Norden immer wieder weit bringen im Aufmerksamkeitsranking: Prominenz der Beteiligten und Negativismus.

Wenn bekannte Leute "schlechte" Dinge machen oder erfahren, dann ist Aufmerksamkeit praktisch garantiert.

Militarismus, Pazifismus, Kanzler-Politik

Betrachten wir einige Inhalte des Gespräches zwischen Schuler und Stegner: Dass die beiden älteren Herren tiefer, als sie vermutlich jeweils von sich annehmen, dem militärischen Denken und Sprechen, dem militärischen Zeitgeist verhaftet sind, zeigt sich zu Beginn: Ralf Stegner sagt im Intro gleich als Allererstes: "Wenn Frau Wagenknecht antritt, dann wird sie auch keine Wunderwaffe sein" (00:08, 19:38). Ralf Schuler wiederum stellt seinen Gast vor als "die Allzweck-Waffe der SPD" (00:34).

Soviel zur Frage von Waffengleichheit und militärischem Jargon, den beide im Verlaufe des Gespräches mehrfach an Anderen kritisieren.

Zur Nord-Stream-Sabotage-Frage sagt Stegner, es bestehe dringender Aufklärungsbedarf, und er sei voller Hoffnung, dass Politik und Medien auch hierzulande diese Aufklärung leisteten. Die Anschläge seien ja nun schon viele Monate her und hätten sich auf einem viel befahrenen Meer ereignet, "nicht irgendwo in der Arktis" (01:45).

Er wolle nicht spekulieren, aber er gehe davon aus, dass es "die eine oder andere Form von Staatshilfe" gegeben habe (03:28). Das Gute allerdings "bei uns" sei, dass alles herauskomme. Solange die Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft liefen, brauche man auch nicht über etwaige parlamentarische Untersuchungsausschüsse zu reden (4:45).

Er teile mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht den Glauben, man könne die zweitgrößte Atommacht der Welt militärisch schlagen (08:15). Stegner sagt, er sei kein Pazifist, aber Kriegsgegner. Er halte nichts von Verbalradikalismus und nichts davon, dass manche deutsche Politikerinnen und Politiker nur noch in "Waffenlogik" dächten.

Stegner fährt fort, er habe noch nie so viel Zustimmung in seinen 30 Jahren Politik bekommen wie jetzt für das, was er einen vernünftigen und besonnenen Kurs halte. Stegner wirft Sahra Wagenknecht "Empathielosigkeit" vor, mit Blick auf vergewaltigte ukrainische Frauen als Kriegsopfer (13:15). Er warnt mehrfach vor zunehmenden "Schwarz-Weiß-Pauschalisierungen" (u.a. 13:30). Immer wieder lobt Stegner im Gespräch den Kanzler und dessen ihm zufolge zurückhaltende Politik.

Schuler fragt vergleichsweise sachlich, das Gespräch scheint von gegenseitigem Respekt geprägt. Beide lassen sich weitgehend ausreden. Das ist weder in Talkshows noch in anderen Gesprächsformaten selbstverständlich.

Beide wirken in vielen Fragen ziemlich einig. Insgesamt erscheint die knappe Stunde wenig skandalträchtig. Stegner bezieht sich unter dem Strich auf so etwas wie eine gute alte sozialdemokratische Welt, Schuler auf einstige rechts-konservative Ordnung. Dazwischen liegen, nicht überraschend, kaum Welten.

Wagenknecht, Merz, Rassismus

Im Fortgang des Gespräches geht es um Themen wie eine etwaige neue "Wagenknecht"-Partei, Migration, demografische Probleme, Ampel-Streitigkeiten, Boris Pistorius, aktuelle Umfragewerte, das neue Wahlrecht, Friedrich Merz, eine "Rassismus-Keule", Gendern bis hin zu Karl Lauterbach.

Der Eindruck bleibt, dass die Kritik an Stegners Auftritt doch eher bestimmte gesagte Inhalte meint als dessen Teilnahme an diesem Gesprächsformat überhaupt.