Alliierte Mitwisser?

Die amerikanischen und britischen Nachrichtendienste sammelten zahlreiche Informationen über den Holocaust. Was sie mit ihrem Wissen anfangen konnten oder mussten, bleibt weiter umstritten

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Auch wenn sich die westlichen Nachrichtendienste während des Zweiten Weltkriegs vor allem mit militärischen Fragen beschäftigten, konnte ihnen die angekündigte, geplante und schließlich weitgehend realisierte Vernichtung des europäischen Judentums nicht entgehen. Doch was das "American Office of Strategic Services", der britische "M.I.6", die gemeinsamen Anstrengungen der "Allied communications intelligence" (COMINT) Agencies und insbesondere die Unterabteilungen der "British Government Code and Cypher School" (GC&CS) sowie des "U.S. Army´s Signals Intelligence Service" (SIS) tatsächlich wussten, wissen konnten und an die politischen Entscheidungsträger weiterleiteten, blieb lange Zeit im Unklaren.

Als F. H. Hinsley in den 80er Jahren sein Standardwerk "British Intelligence in the Second World War" vorlegte, begann eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema. Sie dauert bis heute an, erfordert durch die sukzessive Freigabe von Quellen allerdings ständige Perspektivwechsel und neue Bewertungsmaßstäbe.

Abhörabteilung von MS-1, Vint Hill Farms, Virginia. Bild: NSA

Der Historiker Robert J. Hanyok hat in einer Studie der National Security Agency (NSA) nun eine vorläufige Bilanz gezogen und das umfangreiche Material, so weit es heute zur Verfügung steht, noch- oder erstmals gesichtet. "Eavesdropping on Hell: Historical Guide to Western Communications Intelligence and the Holocaust, 1939-1945" stützt sich im wesentlichen auf die Bestände der amerikanischen "National Archives and Records Administration" und des "Public Record Office" des Vereinten Königreiches, das seit 2003 unter der Bezeichnung "National Archives" firmiert.

Hanyok, der bereits den vermeintlichen Angriff auf amerikanische Kriegsschiffe im Golf von Tonkin, mit dem vor 40 Jahren der Einmarsch in Vietnam begründet wurde, als Fälschung von Funksprüchen enttarnen konnte (Noble Lügen), sucht zunächst eine objektivierbare Ausgangsbasis. Ausführlich zeichnet er die Arbeitsbedingungen der westlichen Nachrichtendienste nach. Schließlich konnten die Alliierten nur die Mitteilungen verwerten, die abgefangen, unzweideutig entschlüsselt und richtig interpretiert wurden. Aber auch wenn es den Spezialisten schließlich gelang, die legendäre Chiffriermaschine Enigma oder den japanischen Code JN-25 zu knacken, erwies sich die tägliche Arbeit oft als Sisyphos-Aufgabe. Denn der Umfang des Nachrichtenverkehrs, Zeitverzögerungen, technische Probleme, der Mangel an Empfangsstationen und personelle Engpässe machten eine lückenlose Überwachung unmöglich.

Ein Großteil der deutschen Kommunikation, die in den besetzten Gebieten mit Telefonen und Telegrafensystemen geführt wurde, konnte überhaupt nicht abgehört werden. An sämtlichen Fronten war der Verlust deutlich höher als der Ertrag. So fing der "Signals Intelligence Service" im März 1943 beispielsweise 114.000 Nachrichten ab, die vorzugsweise die japanische Armee betrafen. Die Zentrale in Arlington Hall konnte aber nur 4.500 Übersetzungen anfertigen.

Insgesamt dechiffrierten die Fachleute mehrere Millionen Nachrichten, von denen nur knapp 1.000 Informationen über die Vernichtungsmaschinerie der Nazis enthalten, die seinerzeit zumeist noch nicht als solche verstanden wurde. Trotzdem erreichten die Geheimdienste eine Fülle von Informationen, die den Holocaust, Massenerschießungen, "Säuberungsaktionen" und schwere Kriegsverbrechen, die Deportation der ungarischen Juden oder die Rolle der Vichy-Regierung bei der Verschleppung der französischen Juden betrafen.

SS-Bericht vom September 1942 aus Auschwitz, in dem die verfügbaren Arbeitskräfte aufgeführt werden. Die handschriftliche Einträge - "Total at beginning of day," "Increase," "Decrease," "Total at end of day," "Jews," "Poles," (unknown) und "Russians" - stammen von Bletchley-Analysten. Quelle: PRO HW 16/10 ZIP/GPCC/3.10.42

Die sogenannte Record Group (RG) 457 des SIS enthält beispielsweise eine polizeiliche Mitteilung vom 18. Juli 1941 über die Exekution von 1.153 "jüdischen Plünderern" in der Nähe der weißrussischen Stadt Slonim. Am 3. August berichtet eine SS-Brigade über die Liquidation von 3.274 "Partisanen" und "jüdischen Bolschewisten", nur vier Tage später teilt dieselbe Brigade mit, seit Beginn des Russland-Feldzuges insgesamt 7.819 Menschen getötet zu haben.

Mitteilung vom Januar 1943 über die Zahl der bei der Operation Reinhard getöteten Juden. Quelle: PRO HW16/23 ZIP/GPDD 355a/ 15.1.43

Dass dem "Einsatz Reinhard" bis zum 31. Dezember 1942 in den vier Vernichtungslagern Lublin, Belzec, Sobibor und Treblinka 1.274.166 Menschen zum Opfer fielen, entging den Diensten ebenfalls nicht, auch wenn diese Meldung möglicherweise falsch interpretiert wurde. Auf der entsprechenden Nachricht sind die Konzentrationslager nur mit einem Kennbuchstaben bezeichnet, hinter denen nicht näher erklärte Zahlen auftauchen. Das Dokument wurde als "most secret" eingestuft und mit dem Zusatz "to be kept under lock and key" versehen. Hanyok hält es gleichwohl für ausgeschlossen, auf der Basis der abgefangenen und dekodierten Telefonate, Funksprüche oder Telegramme "eine vollständige Geschichte des Holocaust" zu schreiben.

Die Informationen sind in den meisten Fällen episodenhaft und betreffen oft nur Teilaspekte. In den wenigen Fällen, in denen Details bekannt wurden, betreffen die Informationen oft nur einzelne Aspekte eines größeren Ereignisses.

Robert J. Hanyok

Die Frage, was die Alliierten, insbesondere die politischen Führungsriegen um den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt und den britischen Premierminister Winston Churchill, über den Holocaust wissen konnten, lässt sich ohnehin nicht allein auf der Basis der COMINT-Erkenntnisse beantworten. Schließlich standen ihnen noch eine Vielzahl anderer Quellen zur Verfügung: Aus den Berichten von Agenten, Diplomaten, Regimegegnern und Flüchtlingen, Fotografien, Luftaufnahmen, geheimen Akten und Unterlagen ließen sich weitere Informationen gewinnen. So verweist Hanyok auf eine Luftaufnahme des Konzentrationslagers Auschwitz I, die am 4. April 1944 entstand. Sie zeigt alle wesentlichen Details des Vernichtungslagers - Meldebüro und Küche sind ebenso deutlich zu erkennen wie Gaskammer und Gefängnisbaracken.

Luftaufnahme von Auschwitz vom 4.4.1944. Bild: Studies in Intelligence. Special Unclassified Edition, Fall 2000

Durch die alleinige Auswertung nachrichtendienstlicher Tätigkeiten entsteht kein vollständiges Bild der historischen Ereignisse. Nach Einschätzung von Robert J. Hanyok haben die Aktivitäten von GC&CS und SIS allerdings zahlreiche Hinweise auf schwere Verbrechen geliefert, die manche Zeitgenossen richtig hätten deuten können, auch wenn die Grausamkeit und das Ausmaß des Holocaust ihre Vorstellungskraft übersteigen musste und die eigentlichen Vernichtungsbefehle selbstredend nicht im Radio durchgegeben wurden. Als Beweis für diese These führt er eine Notiz von Nigel de Grey an. Der stellvertretende Direktor des GC&CS schrieb am 11. September 1941, zu einem Zeitpunkt, da die Vereinigten Staaten sich noch gar nicht im Krieg befanden und der industrialisierte Massenmord erst am Anfang stand:

The fact that the Police are killing all Jews that fall into their hands should now be sufficiently well appreciated. It is not therefore proposed to continue reporting these butcheries unless so requested.

Nigel de Grey

Während einige Historiker auch im Rückblick keinen militärischen Spielraum für alliierte Hilfsaktionen sehen, sind Wissenschaftler wie Aaron Breitbart vom Simon Wiesenthal Center oder Rafael Medoff, Direktor des David S. Wyman Institute for Holocaust Studies in Pennsylvania, fest davon überzeugt, dass auf amerikanischer und britischer Seite nicht genug getan wurde, um den Völkermord zu stoppen. Da die Alliierten frühzeitig über viele Pläne und deren Realisierung informiert waren, hätten sie wesentlich mehr Juden zur Emigration verhelfen oder den Holocaust durch gezielte Bombardierungen behindern müssen.

"Aber die Rettung von Juden hatte keine Priorität. Jüdischen Anführern wurde gesagt, der beste Weg, den Holocaust zu stoppen, sei Deutschland zu besiegen", erklärte Breitbart in der "New York Times" anlässlich einer Vorabveröffentlichung von Hanyoks Studie.