Am Tag, als der Regen kam

Meteoro- und andere Lügen: Der Frühling 1986

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Jeder aus der entsprechenden Generation weiß heute noch, wo er war, als er davon erfuhr, dass John F. Kennedy oder John Lennon erschossen wurden. Doch auch, wo man war, als man von der Explosion im Atomkraftwerk Tschernobyl erfuhr, hat sich ins Gedächtnis eingebrannt – und auch, wo man war, als der Atomregen kam…

Rain in May
wipes your worries away
Take a dose
take off your cloths
Feel the soft warm spray
of the rain in May

Max Werner - Rain in May

Jeder, der heute über 25 Jahre ist, hat einer Erinnerung an den April und Mai 1986. Nicht unbedingt an den 26. April 1986, als das Unglück im Block 4 des „Lenin-Kraftwerks“ passierte, denn da ahnte hierzulande ja noch niemand davon. Erst als an einem schwedischen Kernkraftwerk die Messgeräte Alarm gaben und sich keine Ursache in der Anlage finden ließ, wurde außerhalb der USSR ruchbar, dass etwas Übles passiert sein musste.

Die ersten Radio- oder Fernsehnachrichten über eine Störung in einem russischen Atomkraftwerk nahm man dann noch gar nicht bewusst als etwas Bedrohliches wahr, schließlich ist eine Havarie in einem Atomkraftwerk nichts Ungewönliches: Bis zum 26. April 1986 waren weltweit bereits etwa 150 Fälle ernsthafter Tragweite bekannt geworden. Doch vergessen haben die wenigsten die erste Nachricht über den GAU, selbst wenn die Leute, bei denen man sie damals erhielt, längst nicht mehr leben oder man den Kontakt zu ihnen verloren hat.

Nicht nur in der Ukraine und in Weißrussland waren Ende April, Anfang Mai wunderschöne Frühlingstage, sondern auch bei uns. Die Politiker versicherten, das Unglück im fernen Russland würde uns nie betreffen und die radioaktive Wolke würde Deutschland nie erreichen. Dann kam der Regen.

An der TU München im Mai 1986 verteiltes Flugblatt

Der eine fuhr die ganze Nacht mit offenem Fenster durch den Regen, weil in seinem Auto der Heizungsregler abgebrochen und es sonst einfach nicht auszuhalten war. Besonders feucht wurde er nicht, die Heizung und der Fahrtwind trockneten ihn wieder. Der andere stellte in der Freinacht auf den 1. Mai im strömenden Regen jede Menge Unsinn an, denn niemand sah ihn in der Dunkelheit bei diesem Wetter. Wer dachte sich schon etwas Böses bei einem harmlosen, warmen Frühlingsregen? Vielleicht jene, die schon einmal etwas von Atombomben, radioaktivem Fallout und schwarzem Regen gehört hatten, doch die waren eher selten.

Ich kam gerade nach Hause, es waren noch gut 20 Meter vom Parkplatz bis zur Haustür, die Familie erwartete mich schon und stand in derselben – und plötzlich, nach etlichen Tagen Trockenheit, platzte ein Gewitterregen los. Genau das, was ich nun gar nicht wollte, denn auch ich glaubte nicht daran, dass die russische Atomkraft bereits im Lande sein könnte, aber man weiß ja nie...und die 10 Sekunden hätte es ja nun wirklich noch abwarten können!

Doch der Regen sah nicht danach aus, als ob man ihn einfach im Auto aussitzen könnte, zumal dann meine Familie in den Regen gelaufen wäre, um mich zu fragen, was denn mit mir los sei und das Auto auch nicht besonders wasserdicht war. Es war richtig dunkel geworden und nach Gewittern pflegte sich der Regen tagelang als Landregen festzusetzen. Also rannte ich stattdessen die 20 Meter im Sprint und dabei fast die Wartenden über den Haufen, die glaubten, ich sei gerade verrückt geworden, weil ich mich über ein paar Regentropfen auf einmal so albern aufregte.

Dass Wackersdorf dann doch nicht gebaut wurde, lag daran, dass sein Mentor, der einstige deutsche Atomminister Franz-Josef Strauß, gestorben war

Am nächsten Morgen hatte der Regen wieder aufgehört. Die Politiker versicherten immer noch, es bestehe keinerlei Gefahr. Nur in Garching wunderten sich die Forscher, wieso sich die Türen am Forschungsreaktor versperrt hatten.

Ich hatte mir einige Jahre vorher einen Geigerzähler gebaut; ursprünglich eine typische Elektronikbastelschaltung aus alten Büchern, die nur wenige Bauteile benötigte: einen Spannungswandler, der aus den 9 Volt einer Batterie mehrere 100 Volt für das Zählrohr erzeugte und ein kleiner Verstärker, der die durch das Zählrohr schießenden radioaktiven Teilchen beziehungsweise die dadurch erzeugte Entladung als Knacken in einem Lautsprecher hörbar werden ließ. Ein Messinstrument mit Skala hatten solche Geräte gar nicht erst, es knackte einfach nur, so wie in der Schule im Physik-Labor.

Physikversuch mit Geigerzählrohr (Bild: Wikipedia, Michael Krahe)

Das Zählrohr, das ich für das Gerät aufgetrieben hatte, war billig und vermutlich aus irgendwelchen uralten Militärbeständen. Zunächst funktionierte es gar nicht; erst nachdem ich die Spannung um fast weitere 100 Volt erhöht hatte, war etwa fünfmal innerhalb von zehn Minuten ein Knacken zu hören. Ob das eine Fehlfunktion des Verstärkers war oder echte radioaktive Teilchen im Zählrohr, war nicht genau klar.

Ein Campinggas-Glühstrumpf, also das Teil, das man in die Camping-Gaslampen steckte und das dann gleißend weiß aufleuchtete, während die Gasflamme fast unsichtbar blau brannte, wurde zum Testen von Geigerzählern empfohlen: Der Glühstrumpf wurde mit Thorium bestrichen und dieses Element kommt natürlich mit radioaktiven Isotopen vor, weshalb man diese Glühstrümpfe auch nicht anfassen sollte, zumal man sie dabei leicht zerbröselte.

Der Effekt war nicht besonders spannend: mit Glühstrumpf hätte der Geigerzähle eigentlich losprasseln sollen; tatsächlich knackte er nun aber gerade einmal fünfmal in fünf Minuten statt zuvor in deren zehn: das Zählrohr war einfach unheimlich taub. Deshalb wanderte der Geigerzähler auch wieder in den Bastelkeller – einen praktischen Nutzen hatte er nicht.

Nach dem Regen allerdings stellte sich plötzlich heraus, dass der Geigerzähler doch funktionierte: Sobald man aus dem Haus trat, begann er eifrig zu knattern und hielt man ihn rund ums Haus dahin, wo der Regen ins Kiesbett versunken war, wurde das Knattern ziemlich giftig. Da, wo das Regenrohr endete, knatterte er nicht mehr, sondern summte: etwa 20 Entladungen pro Sekunde müssen es gewesen sein, mehr konnte das Zählrohr gar nicht wiedergeben, weil es nicht schnell genug wieder aufgeladen gewesen wäre von der doch nicht besonders starken Hochspannungserzeugung.

Amerikanischer Geigerzähler (Bild: Wikipedia, Horst Frank)

Von zuvor einen Knacken alle 120 Sekunden auf 20 Knacker in der Sekunde war dies eine Steigerung auf das mehr als 2000fache. Zugegeben, niemand legt sich zum Schlafen unter ein Regenrohr und die starke Jodstrahlung dieser Tage ging auch wieder zurück, doch von einer "nur leicht erhöhten Hintergrundstrahlung" konnte im Westen Münchens definitiv nicht die Rede sein.

Der Nachbar im Erdgeschoss wurde sehr nervös, als er mich mit dem merkwürdige Geräusche von sich gebenden Gerät ums Haus schleichen sah. Er wollte wissen, was ich dort zu suchen hätte, ob das denn erlaubt sei, was ich da täte und dass er gleich die Polizei holen würde, wenn ich nicht sofort aufhören würde. Doch die Polizei hätte in diesem Fall auch nicht mehr helfen können.

Irgendwann nach einem Umzug hat das mangels besseren Materials auch nicht solider als die sowjetische Kernkrafttechnik gebaute Gerät den Geist aufgegeben. Die Schaltung, um den Fehler zu suchen, fand sich nach dem Umzug nicht mehr und die Zeitschrift namens Elrad, in der die Schaltung einst gestanden hatte und die in einem gewissen Heise-Verlag erscheinen war, wurde verkauft und eingestellt.

Wenn man die schon damals alten, recycelten Bauteile heute so ansieht, wundert man sich, dass das Gerät überhaupt je funktioniert hat… (Bild: W.D.Roth)

Dieser Tage warf ich dann auch ohne Schaltbild mal einen Blick ins Innere des Geräts. Es fand sich eine Batterie aus dem Jahr 1983 mit der Aufschrift "gut bis 07/91". Die Batterie funktionierte auch im Jahr 2006 noch. Atomkraftwerke gibt es 20 Jahre nach Tschernobyl auch immer noch und es werden auch mit deutscher Finanzierung neue gebaut. Ich sollte das Gerät doch wieder in Gang setzen, die alten Elrad-Hefte soll es ja inzwischen auf DVD geben und man weiß ja nie, wann man einen Geigerzähler für unsere ja ganz bestimmt ganz sicheren deutschen Kernkraftwerke oder ein nicht ganz so sicheres französisches, amerikanisches, bulgarisches oder litauisches AKW doch wieder braucht…