"Anora": Wenn russische Oligarchensöhne Frauen kaufen
Märchen aus dem Reich des Irrsinns: Sean Bakers Film erzählt wahre Lügen über den Scheincharakter der wahren Welt. Reines Gift für Moralisten.
Ein Callgirl, die von Mickey Madison grandios gespielte Anora, trifft Vanya, den Sohn eines russischen Oligarchen. Zunächst ist der infantile, selbstverliebte Knabe Kunde. Doch Knall auf Fall verliebt er sich in sie – und sie sich ein wenig in ihn, obwohl er ein ziemlicher Trottel ist.
Vanyas realistischer Papa möchte allerdings keine Prostituierte zur Schwiegertochter haben, sein Sohn entpuppt sich als hirnloser Schwächling, und so kommt es in "Anora" bald zu einer sehr vorhersehbar verlaufenden Konfrontation, die eine Weile im Stil einer Billy-Wilder-Komödie ausgetragen wird, inklusive einer starken Dosis trashigen Humors, bevor der Film noch andere Seiten aufzieht.
Der Amerikaner Sean Baker gewann im Mai überraschend mit dieser modernen Cinderella-Story, die "Pretty Woman"-Motive ins 21. Jahrhundert überträgt, die Goldene Palme von Cannes.
Gut geölte Geisterbahn
Im Verhältnis zu dem in Cannes meist dominierenden gediegenen Kunstkino bewegt sich "Anora" auf einem anderen Planeten.
Denn diese kühle "feministische" Komödie – die in meinem vielleicht unmaßgeblichen Freundes- und Bekanntenkreis den Herren viel besser gefällt als den Damen und den Filmkritikern viel besser als den pragmatischeren Kinogängern – erzählt zwar von Sexarbeit, Migration und Klassenunterschieden. Doch tut er dies in Form eines feministisch und sozialkritisch angehauchten Wohlfühlfilms.
Ist das ein guter Film? In jedem Fall ist es ein Film, der funktioniert. Er funktioniert wie eine gut geölte Geisterbahn.
Der Archetyp eines neuen, politisch-korrekten "männlichen Filmemachers"
Nicht ohne Grund liest sich jede Synopsis zu diesem Film wie ein Update von "Pretty Woman".
Wenn man den Regisseur genauer unter die Lupe nimmt, kann man entdecken, dass sich Baker damit einen Namen gemacht hat, dass er vermeintlich unterrepräsentierte oder ausgegrenzte Figuren aus der Subkultur, oft Einwanderer ohne Papiere und Prostituierte, in ausgesprochen humanen Settings auf empathische Weise porträtiert.
Von manchen Beobachtern wurde er darum bereits als der Archetyp eines neuen, politisch-korrekten "männlichen Filmemachers" in einer zukünftigen Post-Me-Too-Ära beschrieben.
Baker hat dabei nie schlichtes Mitgefühl mit seinen Figuren: Vielmehr zeigt er sie als Repräsentanten von Haltungen. Es sind Menschen, die in den schmutzigsten und entwürdigendsten Verhältnissen leben – aber auch fast immer neben oder hinter Symbolen des Aufstiegs, der festlichen Feier oder der ikonischen Sublimierung des American Way of Life.
Bakers 139 Minuten langer neuer Film setzt diese Linie fort. Baker verurteilt seine Hauptfigur nie, geschweige denn moralisiert er ihre Tätigkeit oder ihre Arbeit. Anora ist ein Profi, und davor hat der Film gebührenden Respekt.
Oligarchenkritik spielt nur eine untergeordnete Rolle
Im Gegensatz zum misanthropischen Gehabe von so aufgeblasenen Filmemachern wie beispielsweise Yorgos Lanthimos ("Poor Things") macht der Regisseur von "The Florida Project" und "Red Rocket" keine Filme, um sich selbst in Szene zu setzen.
Er zeigt nicht mit dem Finger auf alle anderen Menschen, vor allem auf "alte weiße Männer" und "Privilegierte", um über "große relevante Themen" zu sprechen oder gar um auf effektive bis effekthascherische Weise Diskurse der Kulturwissenschaften zu illustrieren, die in befriedigender Form an die heutige Zeit angepasst wurden.
Auch naheliegende Oligarchenkritik spielt im Film nur eine untergeordnete Rolle.
Trotz seiner glaubwürdigen humanistischen Haltung und seines Glaubens an die Stärke seiner Hauptfigur schikaniert er sie über den Film gehörig.
Anora (eine unvergessliche Mickey Madison, die eine seltsame Mischung aus Unschuld und emotionaler Wahrheit vermitteln kann) setzt sich entgegen aller Anzeichen mit enormer Kraft, mit Schreien und mit Zackigkeit, wenn es nötig ist, durch, während sie – mit ungewöhnlichem Glauben und unerschöpflicher Vitalität – eine Welt betritt, die sie für besser hält, die in Wirklichkeit aber noch dunkler, krimineller und schrecklicher ist, als die Welt, in der sie arbeitet.
Baker porträtiert sie nicht als ahnungslose Idiotin, sondern als ein Geschöpf, das mit einem schier unerschütterlichen Glauben an die Zukunft (und an Amerika) ausgestattet ist.
Die Überlegenheit der USA bestätigen
Die anderen Figuren reduziert der Film auf ihre Funktion und das nötige Minimum, das jeder Film braucht. Gerade die Russen sind hier eine Ansammlung von unerträglichen und eingebildeten Wesen, die die Überlegenheit der USA zu bestätigen haben.
Den Cannes-Preis verdient der Film für die Virtuosität, mit der er sich mit beneidenswerter Leichtigkeit und großer Energie von der romantischen Komödie zum Thriller und vom Slapstick zur Screwball Comedy bewegt.
Komödie ist der Film vor allem da, wo die Beauftragten des Oligarchen Ungeschicklichkeit mit Entschlossenheit im Ausführen ihrer Befehle verbinden, was bei Baker zum Motor lustiger Sequenzen wird.
Etwas langweilig bleibt alles dennoch. Denn letztlich meint es der Film aber ernst und zeigt vor allem eine knallharte zeitgenössische Frauenfigur und ihren Versuch, um fast jeden Preis aus den eigenen proletarischen Herkunftsverhältnissen auszubrechen, der durch die Feigheit der Männer vereitelt wird.
Und wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Schläger her ...
Die schöne Lüge ist schön. Aber sie bleibt eine Lüge.
Der Film ist reines Gift für Moralisten, denn er ist unmöglich für irgendeine Art von beruhigendem Diskurs zu instrumentalisieren. Denn am Ende wird das Märchen doch noch wahr, weil einer der Oligarchenschläger zum Märchenprinzen mutiert.
Der "amerikanische Traum" ist hier nur noch im Hinterhof am Leben. Und er ist nur dadurch noch "wahr", dass er sich zu seinem fiktionalen Charakter, zu seiner Scheinhaftigkeit und Essenz als Lüge bekennt.
Aber noch lebt er.
Dies ist der Stand des Neoliberalismus: Seine Versprechen lösen sich nicht mehr ein. Die Träume sind zerplatzt, aber etwas Besseres finden wir nirgendwo. Darum halten wir an den Träumen fest, an die wir selbst nicht glauben.
Es bleibt nur Autosuggestion. Ein Geisteszustand kurz vor dem Irrsinn.