Antisemitismus in Deutschland

Seite 4: "Die Existenz Israels wirkt wie ein Pfahl im Fleisch des religiös überhöhten Herrschaftsanspruchs"

Wie schätzen Sie die Rolle Israels im Nahen Osten ein?

Hartmut Krauss: Die Gründung des Staates Israel war die unmittelbare Folge der Zerschlagung des NS-Regimes und des damit besiegelten Endes des Zweiten Weltkriegs. Angesichts der ideologischen Kumpanei und politischen Kollaboration mit den Nazis, wie sie sich insbesondere im Wirken des Muftis von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, manifestierte sowie der Begeisterung für Hitler und die deutsche Judenvernichtungspolitik war bereits die Beseitigung der Naziherrschaft eine weitere frustrierende Erfahrung für die islamische Welt.

Kurz darauf erfolgten dann mit der Gründung des Staates Israel und der arabisch-islamischen Niederlage im direkt anschließenden Unabhängigkeitskrieg (Nakba/Katastrophe) weitere schwerwiegende Traumata für die islamische Herrschaftskultur. Hinzu kam dann später noch die Niederlage im Sechstagekrieg (1967).

Fortan wirkte und wirkt die Existenz Israels wie ein Pfahl im Fleisch des religiös überhöhten Herrschaftsanspruchs der islamischen Gemeinschaft der "Rechtgläubigen". Die islamspezifische Judenfeindschaft wurde durch diese Niederlagenserie nicht nur religiös-ideologisch, sondern auch sozialpsychologisch "getriggert" und lässt sich näher bestimmen als aggressiver Ausdruck eines blockierten Herrschafts- und Dominanzanspruchs bzw. die sozialpsychologisch-ideologische Präsenz eines sich dominiert fühlenden Subjekts, das selbst Herrscher sein will und lange Zeit Herrscher war.

Zwecks psychischer und ideologischer Restabilisierung dieses traumatisierten Subjekts kam es zur selbstentlastenden Herausbildung eines ausgeprägten Verschwörungsnarrativs, wonach der Westen und insbesondere die Juden in der Rolle von Sündenböcken für die Krisen und Nöte der Muslime verantwortlich sind.

In der ursprünglichen, im August 1988 erstmals veröffentlichten Charta der im Gaza-Streifen herrschenden Hamas, die den palästinensischen Zweig der Muslimbruderschaft verkörpert, sieht man sehr klar, dass der moderne rassistisch-verschwörungsideologische Antisemitismus der grundlegenden klassischen islamisch-dogmatischen Judenfeindschaft nur "aufgepfropft" wurde.

So heißt es einleitend bereits in aller Deutlichkeit: "‘Israel wird entstehen und solange bestehen bleiben, bis der Islam es abschafft, so wie er das, was vor ihm war, abgeschafft hat.‘" "Der Imam und Märtyrer Hassan al-Banna, Gott hab ihn selig."

Artikel 1 lautet: "Das Programm der Islamischen Widerstandsbewegung ist der Islam. Aus ihm leitet sie ihre Ideen, Konzepte und Vorstellungen vom Universum, dem Leben und den Menschen ab, von ihm lässt sie sich in all ihren Unternehmungen auf dem rechten Weg leiten."

Artikel 6: "Die Islamische Widerstandbewegung ist eine spezifisch palästinensische Bewegung, treu Gott ergeben. Der Islam dient ihr als Lebensentwurf. Sie strebt danach, das Banner Gottes über ganz Palästina, jeder Handbreit davon, aufzupflanzen." (…)

Artikel 11: "Die Islamische Widerstandsbewegung glaubt, dass Palästina allen Generationen der Muslime bis zum Tag des Jüngsten Gerichts als islamisches Waqf-Land vermacht ist. Palästina darf weder als Ganzes noch in Teilen aufgegeben werden. Es gehört weder einem arabischen Staat noch allen arabischen Staaten, weder einem König oder Präsidenten noch allen Königen und Präsidenten, weder einer Organisation noch allen Organisationen, ganz gleich, ob es sich dabei um eine palästinensische oder arabische Organisation handelt, denn Palästina ist den Generationen der Muslime bis zum Tag des Jüngsten Gerichts gegeben. (…)

Auf dieser orthodox-islamischen Grundlage wird dann "modern-antisemitisch-verschwörungsideologisches" Gedankengut assimiliert. Wer eine Zwei-Staaten Lösung im Sinne friedlicher Koexistenz anstrebt, muss primär hier an die Wurzel gehend ansetzten oder er wird auch zukünftig scheitern."

"Abstruse politisch-mediale Bezeichnungskumpanei"

Können Sie Gründe anführen, warum sich Teile der Linken mit religiösen Fanatikern wie der Hamas oder der Theokratie im Iran solidarisch erklären?

Hartmut Krauss: Zunächst einmal halte ich es für absolut verfehlt, Gruppen und Personen, die sich mit extrem rückständigen und religiös-irrational verblendeten islamischen Terroristen und theokratischen Totalitaristen solidarisieren und damit Hochverrat an den Ideen und Prinzipien der (Radikal-)Aufklärung sowie der herrschaftskritisch-emanzipatorischen Theorieentwicklung begehen, als "links" zu etikettieren.

Hierbei handelt es sich um eine sehr abstruse politisch-mediale Bezeichnungskumpanei zwischen globalkapitalistischen Mainstreammedien, alten und neuen Rechten sowie postmodern ideologisierten Straßengangs, die im Interesse der herrschenden Kräfte agieren.

Tatsächlich handelt es sich bei diesen fälschlicherweise so genannten "Linken" um eine Ansammlung von Kulturrelativisten, Multikulturalisten und Poststalinisten, deren weltanschaulich-politische Positionen im schroffen Gegensatz zur klassischen Marxschen Theorie stehen.

Sie sind weder an einer kritisch-emanzipatorischen Analyse und Bewertung nichtwestlicher Herrschaftskulturen noch am Begreifen der aktuellen Verflechtungsdynamik von Kapitallogik und nichtwestlichen Herrschaftsverhältnisse wirklich interessiert. Was sie antreibt, sind vielmehr folgende Beweggründe:

1.) Das Absuchen der Wirklichkeit nach vordergründigen Bestätigungen für ihr veraltetes ideologisches Weltbild vom allmächtigen und einzig bösartigen "Westen".

2.) Die Pflege eines positiv-rassistischen Vorurteils, das Angehörige nichtwestlicher Kulturen per se als Verkörperung des Guten, wenn auch etwas Zurückgebliebenen und Unselbständigen (auf jeden Fall: nicht Eigenverantwortlichen) ansieht und deshalb in sozialfürsorgliche Obhut nimmt, das heißt an ihnen ein vormundschaftssüchtiges Helfer- und Beschützersyndrom auslebt.

3.) Der antimarxistische, im Grunde reaktionär-konservative Verzicht auf die kritische Bewertung zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse und repressiver Praxen, wenn es sich dabei um eine "andere", nichtwestliche Lebenskultur handelt.

4.) Die Ausprägung eines deutungspathologischen Reflexes, der jedwede Kritik von Deutschen an Nichtdeutschen mit fast schon krimineller Verleumdungsenergie a priori, also unabhängig von der Überprüfung der inhaltlichen Tragfähigkeit der geäußerten Kritik, als "rassistisch" und "fremdenfeindlich" denunziert.

5.) Und nicht zuletzt dann eben die Tendenz zur Verbrüderung mit nichtdeutschen Reaktionären auch übelster Art, insbesondere radikalislamischen Akteuren nach der Logik "Der Feind meines Feindes ist mein Freund".