Antisemitismus in Deutschland
Seite 5: Antisemitismus in der Ukraine
Letzte Frage: Wie ausgeprägt ist der Antisemitismus in der Ukraine?
Hartmut Krauss: Bei aller berechtigten Kritik an der autoritär-repressiven Konstitution des postsowjetischen Russlands ist es andererseits doch unangemessen, sich von einem unkritisch-schönfärberischen Bild der Ukraine blenden zu lassen. Eine starke antisemitische Präsenz in der jüngeren Geschichte der Ukraine kann nicht geleugnet werden.
So wurden nach vorliegenden Berichten und Analysen während des russischen Bürgerkriegs zwischen November 1918 und März 1921 an über 500 Orten in weit über 1000 Pogromen über 100.000 Juden umgebracht. Etwa zwei Drittel aller jüdischen Häuser und über 50 Prozent aller jüdischen Geschäfte sollen geplündert oder zerstört worden sein.
Verantwortlich für dieses mörderische und zerstörerische Treiben waren insbesondere die weißgardistisch-konterrevolutionären Truppen von Anton Denikin, die ukrainischen Milizen von Symon Petljura sowie die Grüne Armee enteigneter Bauern. Angetrieben wurden diese Gewalttaten wie später auch die Gräueltaten der Nazis in der sowjetischen Ukraine durch die Feindschaft gegen den Bolschewismus und die vermeintliche Dominanz von Juden in dieser Bewegung (antibolschewistisch-antijüdische Synthese).
Im Zweiten Weltkrieg verübte die "Organisation Ukrainischer Nationalisten" (OUN) nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht wiederholt Massaker an der jüdischen Bevölkerung. 84.000 Ukrainer hatten sich für den Dienst in der SS gemeldet.
Über den OUN- Führer Stefan Bandera, der heute – wie auch Symon Petljura – in der Ukraine als Volksheld verehrt wird, heißt es: "Vor dem Krieg machte er kein Geheimnis daraus, dass 'nicht nur Hunderte, sondern Tausende Menschenleben geopfert werden müssen', damit die OUN ihre Ziele realisieren und ein ukrainischer Staat entstehen könne. Die Massengewalt beziehungsweise die 'Säuberung' der Ukraine von Juden, Polen, Russen und anderen 'Feinden' der Organisation war ein zentraler Bestandteil seiner Ziele."
Die postsowjetische Ukraine weist eine einflussstarke Präsenz rechtsextremistischer (ultranationalistischer und neofaschistischer) Akteure auf, die auch bei dem sog. Maidan-Umsturz 2014 eine wesentliche – wenn nicht ausschlaggebende – Rolle spielten. Nach dem Umsturz und im Fortgang der weiteren Entwicklung waren die rechtsextremistischen Akteure zwar nicht auf der unmittelbaren oberen Regierungsebene vertreten, fungierten aber – auch gegenüber Polizei und Geheimdiensten und jenseits des staatlichen Gewaltmonopols – als durchsetzungsfähige Einschüchterungs- und Repressionsorgane im Rahmen des oligarchischen Machtsystems.
In einem 2018 erschienenen Kommentar auf Reuters zum Neonazi-Problem der Ukraine hieß es angesichts der Verbindungen zwischen Strafverfolgungsbehörden und Rechtsextremisten sowie der staatlichen Duldung rechtsextremistischer Einschüchterungspatrouillen:
"Westliche Diplomaten und Menschenrechtsorganisationen müssen die ukrainische Regierung auffordern, die Rechtsstaatlichkeit zu wahren und der extremen Rechten nicht länger zu erlauben, ungestraft zu agieren. (…) Es gibt keinen einfachen Weg, den virulenten Rechtsextremismus auszurotten, der die ukrainische Politik und das öffentliche Leben vergiftet hat, aber ohne energische und sofortige Gegenmaßnahmen könnte er bald den Staat selbst gefährden."
Dass diese Fakten aktuell nicht in das einseitig-antirussische Propagandabild der westlichen "Kriegsberichterstattung" passen, dürfte auf der Hand liegen.