Arbeitslosengeld II: Schleichendes Gift für die Psyche

Seite 2: Aktiv betriebene Stigmatisierung

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Wäre es in diesem Moment noch möglich gewesen, die Verantwortung auf Gerhard Schröder allein zu projizieren und sich von der SPD weiterhin soziales Denken zu erhoffen, so mussten die Arbeitssuchenden seit der Agenda 2010 erleben, wie vorher nur leise und sporadisch geäußerte Ressentiments ihnen gegenüber zum Standard erhoben und en vogue wurden. Das Blatt mit den vier Buchstaben, welches Gerhard Schröder erfolgreich für sich zu nutzen wusste, wartete mit regelmäßigen Geschichten über die frechsten Arbeitslosen Deutschlands auf und erschuf eingängige Begriffe wie Florida-Rolf oder Viagra-Kalle, während die privaten Sender sich darum bemühten, die Arbeitssuchenden als dauerbetrunkene und -qualmende, in dreckiger Kleidung vor dem teuren PC und der Playstation vor sich hingammelnde Personen darzustellen, die ihren Rest-IQ dafür nutzten, sich möglichst vor einer Erwerbstätigkeit zu drücken bzw. eine solche höchstens ausführten, ohne dafür Steuern zu zahlen.

Statt der zunehmenden Stigmatisierung etwas entgegenzusetzen, betrieben führende SPD-Politiker sie selbst aktiv, wobei auch die öffentlich-rechtlichen Sender wie die ARD dazu beitrugen, dass beispielsweise Wolfgang Clement bei Sabine Christiansen unwidersprochen behaupten konnte, es gäbe bei den ALG II-Beziehern eine Missbrauchsquote von 20-25%. Eine Aussage, die der Grundlage entbehrte, nichtsdestotrotz aber gerne von jenen, die bereits ihre Ressentiments pflegten, aufgenommen wurde.

Eine unter der Ägide von Wolfgang Clement erstellte Broschüre, die ALG II-Bezieher mit Parasiten gleichzusetzen wusste, Thilo Sarrazins Betonung des eigenen asketischen Lebens, verbunden mit Rezepte- und sonstigen Tipps für die ALG II-Bezieher oder Kurt Becks Aufforderung, sich zu waschen und zu rasieren, dann würde man auch einen Job bekommen … all diese Äußerungen fügten sich zu einem Gesamtbild: Die SPD würde den Arbeitssuchenden jedenfalls nicht beistehen.

Von den zwei "Volks"parteien politisch gesehen allein gelassen, wurde die Situation für die von ALG II Betroffenen seit Beginn der Agenda 2010 nicht besser, im Gegenteil. Während die Stigmatisierung weiter voran schritt und vorangetrieben wurde, zeigte sich, dass das Gesetz, das immerhin einen großen Teil der Bevölkerung bereits betraf und betreffen würde, mit einer allzu heißen Nadel gestrickt wurde, wichtige Veränderungen wie Mehrbedarfe, eine korrekte Regelbedarfsermittlung… mussten erst langwierig erstritten werden, während die für das Arbeitsministerium zuständigen Politiker sich stattdessen um kosmetische Veränderungen am Namen stritten - oder darum, ob ein ALG II-Empfänger Anrecht auf alkoholische Getränke haben sollte oder nicht.

Wieder und wieder wurde darauf abgehoben, dass die Arbeitssuchenden eher in "die Arbeit zurückgebracht werden müssten", wodurch sie Respekt und Würde erfahren würden, während ihnen eben dieser Respekt von der Gesellschaft und gerade auch von den Jobcentern verweigert wurde. Hinzu kam eine Softwareumsetzung, die bestenfalls als laienhaft angesehen werden konnte (und die beim Anbieter letztendlich auch wegen der zahlreichen sich stetig verändernden Vorgaben zur Verzweiflung führte). Sie sorgte für fehlende oder falsche Auszahlungen und dazu, dass Langzeitarbeitslose suchenden Arbeitgebern nicht einmal mehr angezeigt wurden, weil höchstens 100 Datensätze abgerufen werden konnten.

Dass diese andauernde Praxis der Verunglimpfung und Herabwürdigung sich nicht auf die Psyche vieler auswirkt (und insofern nicht auch Beziehungen wie auch die Selbsteinschätzung beeinflusst), ist zu bezweifeln. Wer sich mit Betroffenen unterhält oder auf sonstige Weise mit ihnen kommuniziert, der stößt jedenfalls immer wieder auf Begriffe wie Verzweiflung, Nutzlosigkeit, Minderwertigkeit.

Teil 2: Weil ich mir nichts mehr wert bin - O-Töne von ALG II-Empfängern