Argumente für Neutralität
Der Krieg in der Ukraine lässt sich nur durch eine Verhandlungslösung beenden. Ansonsten droht ein zweites Afghanistan mitten in Europa
Eine alte Regel der Politik besagt, dass jeder Krieg mit einem Frieden endet. Leider stimmt diese Weisheit nur noch eingeschränkt. In den vergangenen 20 Jahren entstanden um Europa herum verschiedene Kriegsgebiete, in denen die gewalttätigen Auseinandersetzungen bis heute nicht beendet wurden.
Nach dem Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan dauerte es genau zwei Jahrzehnte, bis die Koalition aus Nato-Staaten ihre Niederlage anerkannte und aus dem zentralasiatischen Land abzog, Frieden herrscht in Afghanistan bis heute nicht.
Das gilt ebenso für den Irak, den die USA mit einer Koalition aus Willigen vor 19 Jahren angriffen und zerstörten. Bis heute haben irreguläre Milizen in vielen Regionen erheblichen Einfluss. Auch Libyen wird weiterhin von aus dem Ausland unterstützten Milizen kontrolliert und befindet sich elf Jahre nach dem Angriff durch verschiedene Nato-Staaten in einem latenten Kriegszustand.
In Syrien, wo eine internationale Koalition um die USA vor 10 Jahren begann, eine Armee aus Dschihadisten und Söldnern mit internationalen Waffenlieferungen auszurüsten, halten die USA, die Türkei und Israel weiterhin völkerrechtswidrig Teile des syrischen Territoriums besetzt und unterstützen von außen informelle Kriegsakteure.
Im Jemen führt Saudi-Arabien seit 2015 einen Krieg, den das Königreich trotz massiver militärtechnischer Überlegenheit nicht gewinnen kann, weil der lokale Widerstand extrem gut organisiert und politisch entschlossen ist. Auch nach mehr als 377.000 Toten, größtenteils aus der jemenitischen Zivilbevölkerung, muss das saudische Königshaus keine internationalen Sanktionen fürchten.
In diesen unendlichen Kriegen greift die alte Regel nicht mehr, nach der Kriege enden, weil eine Kriegspartei eine militärische Niederlage erleidet, oder sich die Ressourcen der Kriegsparteien erschöpft haben oder eine Verhandlungslösung erreicht wird. Die beiden entscheidenden Gründe dafür sind, dass die Kriegsparteien weniger als reguläre Armeen agieren, sie also stark informalisiert sind, und weiterhin von außen mit Waffen und Geld gefüttert werden.
Die goldene Regel, nach der jeder Krieg mit Frieden endet, bezieht sich auf konventionelle zwischenstaatliche Konflikte, in denen sich reguläre Armeen souveräner Staaten gegenüberstehen. Dieser formalisierte Rahmen ist nicht nur die Voraussetzung für eine Verhandlungslösung, sondern sorgt auch dafür, dass die kriegführenden Parteien zumindest formal an das Kriegsrecht gebunden sind.
In Konflikten "niederer Intensität", wie Aufstandsbekämpfung und die Unterstützung irregulärer Milizen während des Kalten Krieges beschönigend genannt wurden, ist das Völkerrecht deutlich schwerer durchzusetzen. Was früher in Abgrenzung zu formalen Kriegshandlungen auch "schmutziger Krieg" genannt wurde, ist in den neuen unendlichen Kriegen eher der Standard.
In allen oben geschilderten Fällen haben wichtige externe Parteien offensichtlich kein Interesse an Frieden und Wiederaufbau, was zu der Diskussion einlädt, inwieweit der zumindest niedrigschwellige Konflikt bzw. die dauerhafte Zerstörung der dortigen Gesellschaften ein politisches Ziel externer Parteien darstellt.
Dieses Problem wirft auch der ukrainische Soziologe Wladimir Ischenko in Bezug auf den aktuellen Krieg in der Ukraine auf. Er interpretiert die Reaktion der Nato-Staaten, sich auf Waffenlieferungen und Sanktionen zu konzentrieren, als Hinweis, dass "der Westen tatsächlich ein Interesse an diesem Krieg hat". Die Orientierung, dass ein lang anhaltender Widerstand Russland auf ähnliche Weise erschöpfen werde wie der Krieg in Afghanistan, vernachlässige, dass dieser Krieg für das afghanische Volk ein Desaster war.
Afghanistan wurde jahrzehntelang verwüstet und in einen gescheiterten Staat verwandelt, in dem schließlich eine extremistische Bewegung die Macht übernehmen konnte.
Wenn der Westen mit einer solchen Zukunft für die Ukraine zufrieden ist, bedeutet das, dass er diesen Krieg gebraucht hat. Die derzeitige Haltung des Westens ist nur dann gerechtfertigt, wenn Russland wirklich so zerbrechlich ist, dass es in naher Zukunft zusammenbrechen wird. Wenn sich die Invasion jedoch über Monate oder sogar Jahre hinzieht, macht sich der Westen mitschuldig an der Verlängerung des Krieges.
Wladimir Ischenko, Novosti
Szenario: Ein neues Afghanistan in Europa
Diese Fragestellung ist nicht aus der Luft gegriffen, wie aktuelle strategische Diskussionen im Zusammenhang mit dem völkerrechtswidrigen Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine zeigen. Die Gefahr eines dauerhaften Konfliktes besteht nicht nur abstrakt, sondern der wichtigste Verbündete der Regierung in Kiew, die Vereinigten Staaten und mit ihr die 30 Nato-Staaten, orientieren genau auf dieses Szenario.
Bereits am zweiten Tag des Krieges beschrieb Douglas London in Foreign Affairs die strategische Situation genau in dieser Tradition. Der pensionierte CIA-Offizier geht davon aus, dass die Strategie der ukrainischen Militärs darin bestehen sollte, eine russische Invasion so auszubluten, dass eine Besetzung unhaltbar wird.
Wie die Vereinigten Staaten in Vietnam und Afghanistan gelernt haben, kann ein Aufstand, der über verlässliche Nachschublinien, umfangreiche Reserven an Kämpfern und einen Zufluchtsort jenseits der Grenze verfügt, auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten werden, den Kampfeswillen einer Besatzungsarmee untergraben und die politische Unterstützung für die Besetzung im eigenen Land erschöpfen.
Douglas London, The Coming Ukrainian Insurgency
Dieses Szenario, die Ukraine in ein neues Afghanistan für die russischen Streitkräfte zu verwandeln, bestimmte in den vergangenen drei Wochen tatsächlich die sicherheitspolitischen Reaktionen der USA und der Nato-Staaten. Im Wesentlichen folgen sie den in Foreign Affairs skizzierten Schritten, die ukrainischen Streitkräfte mit einem verdeckten Programm aus den Nachbarländern mit Kleinwaffen, Hightech, Geld und Informationen zu unterstützen.
Eine wichtige Entscheidung hin zu einer Informalisierung der Kriegführung fällte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, als er die Kampfhandlungen für Zivilisten und ausländische Söldner öffnete. Diese Entscheidung ist im ukrainischen Kontext nicht ungewöhnlich. Seit dem Umsturz am 22. Februar 2014 hatten die Regierungen des Landes in dem Bürgerkrieg stark auf Freiwilligenverbände wie das rechtsradikale Asow-Bataillon gesetzt, weil die reguläre Armee als politisch unzuverlässig, schlecht ausgestattet und von Korruption zerfressen galt.
Inzwischen wurden diese rechtsradikalen Milizen in die Nationalgarde und teilweise in militärische Sondereinheiten integriert und von Nato-Staaten sowie mithilfe eines Sonderprogramms der CIA ausgebildet und bewaffnet. Dass diese Formationen innenpolitisch einen starken informellen Einfluss ausüben, war eine Ursache dafür, dass in den vergangenen Jahren bereits jede Verhandlungslösung für den Konflikt in der Ostukraine blockiert wurde.
Aktuell ist das Afghanistan-Szenario die wahrscheinlichste Entwicklungsmöglichkeit für den Konflikt. Dass dies auf einen verlustreichen lang andauernden Konflikt hinausläuft, ist natürlich auch politischen Beobachtern in den USA bekannt. So verweist Lindsey O’Rourke unter anderem auf die negativen Erfahrungen amerikanischer Geheimdienste, nach 1945 die ukrainischen Nationalisten bei einem Aufstand gegen die Sowjetunion zu unterstützen.
Die Operation mit dem Ziel, die Ukraine von der Sowjetunion abzuspalten, endete für die von den USA unterstützten Partisanen so katastrophal, dass eine freigegebene CIA-Einschätzung später zu dem Schluss kam, der Versuch, den Eisernen Vorhang mit Hilfe ukrainischer Agenten zu durchdringen, sei "unglücklich und tragisch" verlaufen.
Zudem bestehe natürlich die Gefahr, dass die USA schließlich doch offiziell in den Konflikt hineingezogen würden, so die Autorin des Buches Covert Regime Change: America’s Secret Cold War. Außerdem müsse man damit rechnen, dass es wie im Fall der afghanischen Mudschahedin unerwünschte Rückwirkungen gebe, so O’Rourke mit Blick auf al-Qaida.
Laut Erfahrungswerten würden diese von außen unterstützten Aufstände im Mittel zehn Jahre dauern und größtenteils scheitern. Insofern kritisiert die Wissenschaftlerin auch aktuelle Stellungnahmen, etwa von Hillary Clinton, die wie schon in Syrien für die Unterstützung von Aufständischen wirbt, und dies sogar unter Verweis auf die afghanische Geschichte.
Aber Afghanistan ist ein merkwürdiges Beispiel, das hier angeführt wird. Zwar gelang es den afghanischen Rebellen, die Sowjets zu vertreiben, aber das kam das afghanische Volk teuer zu stehen: Mehr als eine Million Afghanen wurden im sowjetisch-afghanischen Krieg getötet und Millionen weitere flohen aus dem Land. Ein solches Schicksal kann man den Ukrainern nicht wünschen.
Lindsey O’Rourke, The False Promise of Arming Insurgents