Argumente für Neutralität
Seite 3: Konsequenzen für Europa
Für Europa und die Europäische Union ist die Entwicklung schon jetzt eine außenpolitische Katastrophe, unabhängig davon ob, wann und in welcher Form möglicherweise ein Verhandlungsfrieden erreicht wird. Dies betrifft zunächst den offiziellen außenpolitischen Strategiewechsel der Russischen Föderation.
Seit Michael Gorbatschow orientierte die russische Außenpolitik auf ein "Gemeinsames Haus Europa" von Wladiwostok bis Lissabon, wie auch Wladimir Putin immer wieder öffentlich betonte. Diese Perspektive eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraums hat Russland mit dem Einmarsch in die Ukraine klar aufgegeben. Stattdessen reden regierungsnahe Außenpolitikexperten wie Fjodor Lukjanow nun von der "Festung Russland". Die russische Regierung hat sich entschlossen, im Kampf um Einflusssphären nunmehr auf ihre Hard Power zu setzen anstatt auf politische Übereinkommen.
Dem ging im vergangenen Herbst zunächst die Weigerung der wichtigsten EU-Staaten, Deutschland und Frankreich, voraus, als Garantiemächte des Minsker Abkommens auch dessen Umsetzung durch die Ukraine zu gewährleisten.
Konkret ließen Heiko Maas und Jean-Yves Le Drian die Russischen Föderation einfach abblitzen, als Sergej Lawrow die beiden EU-Staaten aufforderte, sich dafür einzusetzen, dass die ukrainische Regierung endlich einen direkten Dialog mit den Vertretern der Volksrepubliken aufnehmen und einen Autonomiestatus für die Regionen schaffen solle, wie es im Minsker Abkommen vorgesehen ist.
Im Dezember 2021 forderte die russische Regierung dann Garantien, dass die Nato sich nicht weiter nach Osten ausdehnt und die Ukraine trotz deren Wunsch nicht als Mitglied aufnimmt und dort weder Truppen noch Waffen stationiert, sprich einen neutralen Status für Ukraine und auch Georgien. Auch diese Initiative wurde im Januar 2022 von der Nato abgelehnt, weil angeblich alle Staaten das Recht hätten, selbst über ihre Bündniszugehörigkeit zu entscheiden. Stattdessen entschied der Nato-Gipfel, die Militärpräsenz der Mitgliedstaaten in Osteuropa erneut zu verstärken, die USA begannen schon am 24. Januar ihre Staatsbürger aus der Ukraine zu evakuieren.
Die offenkundige Unfähigkeit der EU-Außenpolitik die kommende Eskalation auch nur vorauszusehen, geschweige denn im Interesse der Mitgliedstaaten eine kooperative Lösung durchzusetzen, die die Sicherheitsbedürfnisse aller beteiligten Staaten berücksichtigt, wird langandauernde Konsequenzen haben.
Sie bestätigt jedenfalls die Russische Föderation in ihrer Sichtweise, dass die EU ohnehin nicht in der Lage ist, innerhalb der Nato das Interesse ihrer Mitgliedstaaten an einem friedlichen Europa durchzusetzen, obwohl sie mit 21 Mitgliedern eigentlich über eine bequeme Mehrheit innerhalb der Nato verfügen. Genauso wichtig ist es festzuhalten, dass die US-Regierung bereits fest mit einer Eskalation rechnete und sich trotzdem mit einer kompromisslosen Haltung durchsetzte, ein Aspekt, auf den auch Wladimir Ischenko hinweist.
Die amerikanischen und britischen Geheimdienste haben die Invasion seit Monaten vorausgesagt. Wenn London und Washington sich der Invasion so sicher waren, warum haben sie sie nicht verhindert, warum haben sie nicht aktiver mit Putin verhandelt? Sicherlich ist Putin der Hauptverantwortliche für den Krieg. Aber der Westen wusste von der Invasion und hat nicht genug getan, um sie zu verhindern.
Wladimir Ischenko, Novosti
Selbst wenn es demnächst zu einer Verhandlungslösung kommen sollte, haben sich Frankreich und Deutschland als außenpolitische Akteure selbst aus Osteuropa verabschiedet. Dies betrifft nicht nur ihre offenkundige Nutzlosigkeit aus der Perspektive der russischen Außenpolitik.
Mit dem Krieg und möglichen Sicherheitsgarantien für die Ukraine haben die USA, Großbritannien und die Türkei nun das Heft in die Hand genommen, wie es eine altmodische Redewendung passend bezeichnet. Die Zeiten, in denen der Bundesrepublik eine entscheidende Rolle in der Osteuropapolitik zugestanden wurde, sind definitiv vorbei.
Decoupling: Die wirtschaftliche Folgen
Auf den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine reagierten die EU-Staaten mit einer Welle von Sanktionen. Auch wenn diese in ihrem Umfang beispiellos sind, ist das Instrument nicht neu. Von den etwa 6.400 in Russland aktiven Unternehmen mit mehrheitlich deutschen Kapitaleignern im Jahr 2013 hatten sich bis Anfang 2022 mit 3.100 bereits knapp die Hälfte aus dem Russlandgeschäft zurückgezogen, so der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft.
Allein die Exporte deutscher Unternehmen nach Russland reduzierten sich um jährlich 15 Milliarden Euro von 38,1 Milliarden im Jahr 2012 auf 23,1 Milliarden im Jahr 2020 (Eurostat). Betroffen von diesen Umsatzeinbußen waren vor allem die verarbeitende Industrie und Unternehmen in Ostdeutschland, wie das Ifo-Institut letztes Jahr bilanzierte:
Insgesamt belasten die EU-Sanktionen den Handel deutscher Unternehmen am stärksten, so dass es nicht verwundert, dass die Mehrheit der deutschen Firmen angibt, von einer Aufhebung des EU-Sanktionsregimes direkt profitieren zu können.
ifo Schnelldienst 1/2021
Der aktuelle Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine unterstreicht noch einmal mit aller Deutlichkeit, dass die Sanktionen keineswegs geeignet sind, ihr vorgebliches Ziel zu erreichen, nämlich irgendeine politische Verhaltensänderung aufseiten der russischen Politik zu bewirken.
Vielmehr richten sie sich gegen das Wirtschaftsmodell Deutschland, das im internationalen und auch europäischen Vergleich stärker auf einer verarbeitenden Industrie und Exportorientierung basiert. Auch wenn es zu früh ist, die Auswirkungen der aktuellen Sanktionswelle abzuschätzen, bestätigt sich diese Tendenz bereits mit aller Deutlichkeit.
Betroffen sind vor allem die "Paradebranchen der deutschen Exportwirtschaft", wie die Wirtschaftswoche vorrechnet Maschinenbau (Exportwert nach Russland 2021: 5,8 Milliarden Euro), die Automobilindustrie (4,4 Milliarden) und die Chemieindustrie (3,0 Milliarden).
Hinzukommen nach Angaben der Bundesbank außerdem 472 deutsche Unternehmen in Russland im Jahr 2019 mit 129.000 Beschäftigten und einem Umsatz von 38 Milliarden Euro. Insgesamt, so das Blatt unter Berufung auf Bloomberg, drücken der Krieg und die Reaktionen darauf die Wirtschaftsleistung in der EU um 3,2 Prozent und in den USA um 0,5 Prozent, wobei dieser Effekt im Fall einer vollständigen Unterbrechung der Öl-, Gas- und Kohlelieferungen aus der Russischen Föderation noch deutlich stärker zuungunsten der EU-Wirtschaft ausfallen könnte.
Dabei geht es nicht mehr nur um unmittelbare Verluste im Handel, sondern mittlerweile vor allem um die radikal steigenden Preise für fossile Energieträger und andere Rohstoffe, welche die Grundkosten der verarbeitenden Industrie massiv in die Höhe treiben. In ersten besonders energieintensiven Bereichen wie der Stahlindustrie wurde die Produktion bereits heruntergefahren oder sogar eingestellt.
Das Handelsblatt sprach von einer Zäsur für die Weltwirtschaft und einer empfindlichen Schwächung des Wachstums. Die Weltwirtschaft könnte sich derzeit auf dem Weg in das am meisten gefürchtete Szenario der Ökonomen bewegen, eine Stagflation, eine Periode hoher Inflationsraten trotz nachhaltiger Wachstumsschwäche.
Die neue weltwirtschaftliche Lage stellt vor allem für Deutschland ein Risiko dar, dessen Wachstum wie das kaum eines anderen Landes von den Weltmärkten und dessen Energieversorgung wie kaum eines anderen Landes von Russland abhängt.
Handelsblatt, 11. März 2022
Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass nicht etwa der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine für diese Effekte verantwortlich ist, sondern bestenfalls die Reaktion westlicher Politiker auf diesen Angriff. Mit traumwandlerischer Sicherheit arbeiten wertebasierte Politiker nun daran, die zuverlässigen und günstigen Importe von Öl, Gas und Kohle aus der Russischen Föderation durch Einfuhren aus kriegführenden Diktaturen wie Ägypten, Saudi-Arabien und den Golfstaaten zu ersetzen.
Die Grünen-Minister Habeck und Baerbock können endlich ihr Traumprojekt umsetzen, nämlich mehr Fracking-Gas aus den USA in Form von Flüssiggas (LNG) importieren. Für alle diese Alternativen gilt natürlich, dass sie erheblich teurer und erheblich klimaschädlicher sind als die konventionellen Rohstoffe aus Russland. Zum anderen lagen alle diese Möglichkeiten auch schon lange vor Februar 2022 auf dem Tisch, allerdings waren sie politisch nicht durchsetzbar.
Die westlichen Öl- und Gasmonopolisten hatten auch schon ein Jahr vor dem russischen Überfall auf die Ukraine ab Januar 2021 angefangen, die Preise auf dem europäischen Markt in die Höhe zu treiben, was laut EZB der entscheidende Antreiber für die Inflation im Euro-Raum ist.
Aber gemäß dem Motto, lasse keine Krise ungenutzt verstreichen, erweist sich der Krieg in Ukraine als hervorragender Anlass für Agenda-Surfing, um eine umfassende Umstrukturierung in der deutschen und europäischen Energiepolitik durchzusetzen.
Wichtig für einen Regulierungsansatz ist jedoch, dass die westlichen Öl- und Gasmonopolisten die Krise nutzen, um langfristige Ziele durchzusetzen, d.h. der Einmarsch in die Ukraine ist ausdrücklich nicht die Ursache für die aktuellen Preissteigerungen am Energiemarkt und das Comeback der fossilen Monopolisten.