Argumente für Neutralität
Seite 2: Szenario: Krieg zwischen Nato-Staaten und Russland
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Dass das Afghanistan-Szenario aktuell die öffentlichen Äußerungen und Strategien aus Nato-Kreisen dominiert, muss nicht bedeuten, dass direkte Kriegshandlungen von einzelnen Mitgliedern des Militärbündnisses sicher auszuschließen sind.
Darauf weisen schon die Initiativen der polnischen und baltischen Regierungen hin, die ihre Länder seit langem als Frontstaaten gegen die Russische Föderation profilieren, und die aktuell sehr bemüht sind, andere Nato-Staaten in den Konflikt hineinzuziehen, etwa indem sie sich für eine Flugverbotszone stark machen, die von Nato-Staaten durchgesetzt werden müsste, oder indem sie eine internationale Friedenstruppe fordern.
Diese Gefahr steigt aktuell, drei Wochen nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, wenn westliche Militärs und Sicherheitspolitiker die undurchsichtige Nachrichtenlage zum Anlass nehmen, ein Scheitern oder sogar die grundsätzliche militärische Schwäche der russischen Streitkräfte auszumachen. Außerdem sei die russische Drohung mit Nuklearwaffen ohnehin nur ein Bluff, so eine gefährliche Erklärung aus diesem Lager.
Diese Art von Bewertungen laden tendenziell dazu ein, die russische Verteidigungsfähigkeit wirklich auf die Probe zu stellen, zumal die russischen Streitkräfte gerade stark im Südwesten gebunden sind.
Wesentlich für eine Analyse ist zu berücksichtigen, dass die Nato-Staaten keinesfalls einheitliche Positionen vertreten. Die USA und Großbritannien haben beispielsweise ihre Sicherheitsbeziehungen mit Staaten in der nordosteuropäischen Randlage in den vergangenen Jahren massiv ausgebaut. Mit der Joint Expeditionary Force (JEF) verfügt Großbritannien über ein eigenes informelles Bündnis im Nord-Ostsee-Raum, dem mit Finnland und Schweden auch Nicht-Nato-Mitglieder angehören.
Im Januar 2022 hat Großbritannien zudem eine trilaterale Initiative mit Polen und der Ukraine vereinbart, eine Vertiefung der Sicherheitspartnerschaft in Aussicht gestellt und seine Truppenpräsenz in Polen aufgestockt. Die USA, Großbritannien und die Türkei haben in den letzten Jahren die Ukraine mit Waffen beliefert, was andere Nato-Staaten ablehnten.
Diese fragmentierte Sicherheitslandschaft birgt natürlich die Gefahr, dass notorische Scharfmacher gegenüber Russland die Risiken eines direkten militärischen Konflikts anders bewerten als die EU-Staaten bzw. die EU-Kommission. Selbst wenn man es für ausgeschlossen hält, dass es vonseiten einzelner Nato-Mitglieder zu Alleingängen oder Provokationen kommt, sorgt allein die Anwesenheit von Nato-Truppen an den russischen Grenzen für ein andauerndes Risiko. Aktuell findet in Norwegen mit "Cold Response" wieder mal ein Nato-Großmanöver in unmittelbarer Nähe der Russischen Föderation statt.
Verhandlungsfrieden: Neutralität für die Ukraine
Obwohl es drei Wochen nach Beginn des russischen Einmarsches so wirkt, also ob die Kriegsparteien sich zunehmend eingraben, ist das dritte Szenario, ein Verhandlungsfrieden, nicht ausgeschlossen. Allerdings werfen sich bereits jetzt beide Seiten vor, die Gespräche zu verzögern. Zuletzt erklärte Wolodymyr Selenskyj, jedes Verhandlungsergebnis müsse durch ein Referendum in der Ukraine angenommen werden.
Das klingt zwar demokratisch, würde aber eine erhebliche Hürde für die Umsetzung jeder Verhandlungslösung darstellen. Wenige Tage nach Beginn der Kriegshandlungen begannen Vertreter der Ukraine und der Russischen Föderation direkte Verhandlungen. Die von ihren Regierungen eingesetzten Unterhändler Wladimir Medinski und Michail Podoljak erklärten gegenüber der Presse übereinstimmend, dass beide Regierungen über eine Neutralität für die Ukraine verhandeln.
Dies ist insofern bemerkenswert, da die Frage der Zugehörigkeit zu einem militärischen Bündnis und die Bewaffnung der Ukraine laut Erklärungen der russischen Regierung ein zentraler Grund für das militärische Vorgehen gegen die Ukraine war. Noch im Januar 2022 hatte die Nato eine von der russischen Regierung geforderte Garantie über die Neutralität der Ukraine abgelehnt.
Sollte es nun zu einem entsprechenden Verhandlungsergebnis kommen, was in Anbetracht der Szenarien Afghanistan oder Konflikt mit den Nato-Staaten natürlich unbedingt wünschenswert wäre, würde doch insofern ein ambivalentes Signal von diesem Ablauf ausgehen, als erst der unmittelbare und völkerrechtswidrige Gewalteinsatz zu einer Regelung geführt hat und nicht die zuvor angestrebte politische Lösung.
In jedem Fall ist eine Verhandlungslösung auch noch keine ausgemachte Sache. Aktuell verhandeln die Regierungen beider Länder über einen 15-Punkte-Plan. Er enthält laut Presseberichten eine Autonomie für die Donbass-Region, wie sie bereits im Rahmen des Minsker Abkommens vorgesehen war. Allerdings hatten die ukrainischen Regierungen unter Poroschenko und Selenskyj sich schlicht geweigert, diesen Punkt umzusetzen.
Ebenfalls auf der Liste soll die Anerkennung der der Krim als Teil der Russischen Föderation stehen sowie der Schutz der russischen Sprache und Kultur in der Ukraine. Umstritten bleibt voraussichtlich die Art der Neutralität und dabei insbesondere die Frage, in welcher Form die Ukraine über eigene Streitkräfte verfügt.
Die russische Maximalvorstellung zielte auf eine vollständige Entmilitarisierung des Landes, verhandelt wird aktuell über eine "Begrenzung seiner Streitkräfte". Der 15-Punkte-Entwurf sieht vor, dass die Ukraine auf einen Nato-Beitritt verzichtet und im Gegenzug für den Schutz durch Verbündete wie die "USA, Großbritannien und die Türkei" verspricht, keine ausländischen Militärstützpunkte oder Waffen zu beherbergen.
Michail Podoljak nannte als ein Verhandlungsziel der ukrainischen Seite, dass ein Abkommen den Abzug der Truppen der Russischen Föderation aus dem ukrainischen Territorium voraussetzen würde, das seit Beginn der Invasion am 24. Februar erobert wurde, d. h. aus den südlichen Regionen am Asowschen und Schwarzen Meer sowie aus den Gebieten östlich und nördlich von Kiew.
Dies enthält zum einen die Bedingung, dass ein Abkommen erst nach Abzug russischer Truppen unterzeichnet wird, was bereits eine wenig realistische Vorstellung ist. Aber auch, was den südöstlichen Korridor zwischen den Volksrepubliken und der Krim um die Stadt Mariupol sowie den Nord-Krim-Kanal betrifft, ist es gut vorstellbar, dass die Regierung der Russischen Föderation dort langfristig andere Ziele hat. Der Kanal bringt Trinkwasser aus dem Dnepr von der Stadt Nowaja Kachowka auf die Krim und wurde von der ukrainischen Regierung 2014 unterbrochen.
Der Pressesprecher der russischen Regierung, Dmitri Peskow, erklärte bisher nur, dass eine Neutralität der Ukraine "nach dem Vorbild Österreichs oder Schwedens" eine Möglichkeit sei. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sah die Verhandlungen am 15. März zunächst "kurz vor einer Einigung" über "absolut konkrete Formulierungen". Die Regierung der USA zeigte sich hingegen weniger optimistisch und verlangte zuerst "konkrete Schritte der Deeskalation" von der russischen Seite.
Eine Woche später warf Lawrow den USA vor, die Verhandlungen zu behindern. Die ukrainische Seite ändere ständig ihre Position, wofür er die USA verantwortlich machte, die wolle beide Länder "so lange wie möglich in einem Zustand militärischer Aktionen halten".
Der ehemalige stellvertretende Außenminister für Europa unter Donald Trump, Wess Mitchell, bezeichnete hingegen eine "befestigte Neutralität" nach dem Vorbild Österreichs als einen "gangbaren und erreichbaren Endzustand". Die russische Seite sei bereits von einigen ihrer Maximalforderungen abgerückt, wie der vollständigen Demilitarisierung und dem Rücktritt von Präsident Selenskyj.
In dieser Form könnte die Ukraine "eine große Armee unterhalten, die mit westlichen Waffen ausgerüstet" schließlich Mitglied der Europäischen Union werde. Zudem könnten mithilfe der "im Westen beschlagnahmten russischen Vermögenswerten" indirekte Reparationszahlungen für den Wiederaufbau geleistet werden, so einige Argumente von Mitchell, die sich vermutlich nicht mit den russischen Vorstellungen von Neutralität decken.