"Armutslöhne haben eine wichtige Funktion"

Seite 3: "Sanktionsdrohung in Verbindung mit rigiden Zumutbarkeitsvorschriften"

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Wie hat es Rot-Grün geschafft, mit dieser Politik nicht Millionen von Lohnabhängigen gegen sich aufzubringen?

Helga Spindler: Die rot -grüne Regierung musste dafür sorgen, dass der Unmut der Kernbelegschaften nicht all zu groß wurde. Deshalb konzentrierte sie sich ganz besonders auf die Arbeitslosen, für die die Arbeitslosenversicherung erheblich verschlechtert und die Arbeitslosenhilfe ganz abgeschafft wurde. Sie wurden mit Hartz IV über Sanktionsdrohung in Verbindung mit rigiden Zumutbarkeitsvorschriften in die gewünschten unsicheren, unattraktiven und prekären Verhältnisse gedrängt, ohne ihnen Verhandlungsmöglichkeiten zu belassen.

Sie müssen ohne Qualifikationsschutz "jede Arbeit" annehmen, werden durch schikanöse Verwaltungspraktiken "aktiviert" und in letzter Zeit auch intensiver auf Gesundheitsdefizite und persönliche Leistungsminderung durchleuchtet, die ihre Herabstufung nachträglich begründen sollen. So haben wir seitdem nicht nur arme Arbeitslose, sondern auch immer mehr arme Arbeitende.

Wäre denn die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ein geeignetes Mittel, um der Armutsentwicklung in Deutschland entgegenzuwirken?

Helga Spindler: Ja, es ist ein Mittel, wenngleich das jetzt verabredete Verfahren noch keine all zu große Wirkung haben dürfte.

Die Einführung eines Mindestlohns stößt nichtsdestotrotz auf starken Widerstand ...

Helga Spindler: Ja, die Gegner des Mindestlohns von 8,50 Euro halten die Notwendigkeit von Armutslöhnen für den bisher gefeierten wirtschaftlichen Erfolg für unerlässlich. Da spricht ein Vertreter der Zeitarbeit von einem "Ankommen an der Belastungsgrenze".

Das heißt: die niedrigeren Einkommen vorher belasteten sein Geschäftsmodell nicht. Andere drohen, dass die Leidtragenden bei dieser Lohnerhöhung die Geringverdiener, die Jungen und die Arbeitslosen seien. Auch das heißt implizit, dass der bisherige Beschäftigungssektor sich nur deshalb so "erfolgreich" entwickelt hat, weil er unter der Grenze einer einfachen Lebenshaltung geblieben ist. Herr Sinn vom IFO Institut befürchtet gar millionenfachen Jobverlust, hält Löhne unter 8,50 also für unabdingbar.

Auch das Finanzministerium hat gerade einen Verlust von 1,8 Millionen Arbeitsplätzen in den Raum gestellt. Vier Wirtschaftsweise und das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) sind sowieso gegen den Mindestlohn.

"Löhne unter 8,50 Euro führen tatsächlich zu Armut"

Was steckt dahinter?

Helga Spindler: Der immer gleiche Widerspruch liegt darin: es wird Wettbewerbsfähigkeit und damit wirtschaftliche Prosperität versprochen, aber mit Zähnen und Klauen dagegen gekämpft, dass auch nur ein klitzekleiner Teil davon verlässlich und messbar bei der arbeitenden Bevölkerung ankommt. Wenn dem so sei, dann gehe es "der Wirtschaft" schlecht und die Arbeitslosigkeit steige.

Armutslöhne haben in den Augen dieser Ökonomen im Wettbewerbsgeschehen eine wichtige Funktion, ohne dass offengelegt wird, zu welchen Löhnen, bezüglich welcher Produkte und zu welchen Wettbewerbern eigentlich konkret in Wettbewerb getreten werden soll. Zu Bangladesch, Indien, China ? Dabei geht es überhaupt nicht um die Exportwirtschaft, wo im Regelfall Löhne über der Mindestgrenze gezahlt werden, sondern um ortsgebundene Dienstleistungen wie Frisieren, Ordnungsdienste, Tätigkeiten in Gastgewerbe und Kantinen, in der Landwirtschaft oder in der Pflege.

Aber auch die Befürworter des Mindestlohns drücken sich davor anzuerkennen, dass die unter 8,50 Euro liegenden Löhne tatsächlich zu Armut führen und vermeiden sorgfältig, genauer zu begründen, wie sie zu ihrer Lohngrenze kommen. Warum 8,50 Euro und nicht mehr oder weniger und warum nicht sofort, sondern erst 2017 ? Ich bin 2014 gerade noch für 8,50 Euro.

"Der aktuelle Regelsatz müsste mindestens bei 440 Euro liegen"

Warum?

Helga Spindler: Mit diesem Stundenlohn kann man nach meinen Berechnungen bei einer Vollzeitbeschäftigung 1440.- Euro brutto im Monat verdienen. Das würde netto zirka 1016 Euro betragen und das ist die Summe, die 2014 einem Harz IV -Aufstocker maximal verbleiben kann und die etwas über der vorher erwähnten Armutsgrenze liegt.

Diese Summe ergibt sich aus dem Regelsatz von 391 Euro, einem Durchschnittsbetrag für Unterkunft von 325 Euro und einem pauschalen Freibetrag für Erwerbstätige von 300 Euro, der sich aus zwei Absetzbeträgen zusammensetzt. Mehr ist das nicht und je nachdem, ob man den Betrag unter 38 oder 40 Wochenstunden aufteilt, liegt dann der Stundensatz zwischen 8,70 und 8,30 Euro. Das ist ein inzwischen schon sehr knapper Wert zum Einstieg, das wird auch vom DGB nicht geleugnet.

Manche mögen meinen, der Freibetrag sei zu üppig. Aber weil wir ja wissen, wie sich aktuell der Regelsatz zusammensetzt, wissen wir auch, dass nicht nur alle arbeitsbedingten Fahrtkosten, Arbeitsmittel, Versicherungsbeiträge einschließlich Riesterrente davon finanziert werden müssen, sondern auch jeder Tropfen Alkohol, jede Zigarette, praktisch jeder Friseur- und Gaststättenbesuch, etwas hochwertigere Lebensmittel, der erhöhte Bekleidungs- und Reinigungsaufwand, kulturelle Bedürfnisse, die Rücklagen für einen bescheidenen Urlaub und Erholung, deutlich höhere Aufwendungen für Gesundheitszuzahlungen, die GEZ Gebühren undsoweiter.

Diese Einkommensgrenze hat eine Schwäche, denn sie bezieht sich auf den aktuellen Regelsatz mit seinen Abschlägen, der ohne diese Manipulation heute mindestens schon bei 440 Euro liegen müsste. Die Unterkunftskosten sind auch unter Berücksichtigung möglicher Wohngeldunterstützung nicht aktuell geprüft.

Trotzdem ist das Gute an dieser Berechnung, dass sie überhaupt eine Begründung liefert und sich wenigstens grob an den Bedarfen orientiert, die man für eine einfache Lebenshaltung eines Vollzeitarbeitnehmers in Deutschland benötigt. Schlecht ist, dass die politischen Akteure, die 8,50 Euro fordern, nichts zu den Bedarfen, zu dem Existenzminimum eines Arbeitenden sagen. Die Höhe scheint deswegen irgendwie beliebig und verhandelbar und sie scheint sogar bis 2017 verschiebbar, ohne das genauer zu begründen.

In Teil 2 des Gesprächs äußert sich Helga Spindler unter anderem über die mutmaßlichen Effekte des Mindestlohns, Scheinselbständigkeit und Armutseinwanderung.