Asylbewerber, Bürgergeld-Bezieher oder Grüne: Die Jagd auf Sündenböcke
Die Sozialpsychologie innergesellschaftlicher Verfeindung: Trigger-Themen sind Migration und Transformation. Was sagt der Diskurs über unsere Zeit?
Das Bedürfnis nach Sündenböcken ist in der Bevölkerung nicht zu allen Zeiten gleich vehement. Wenn es den Leuten leidlich gut geht und sie sich keine großen Sorgen um ihr tägliches Auskommen machen müssen, kommt es beinahe zur Ruhe.
Sie benötigen dann keine Objekte, auf die sie ihre Malaise verschieben können. Ein gut ausgebauter und intakter Sozialstaat, der es nicht zulässt, dass Menschen aus der Gesellschaft herausfallen und verelenden, ist die beste Vorsorge gegen Minderheitenhatz.
Ganz verschwinden wird dieses Bedürfnis indes nie, denn es ist keine Gesellschaft denkbar, die gänzlich ohne Verdrängung und Verzichtsleistungen auskommt. Überall dort, wo verdrängt werden muss, werden wir in unterschiedlichsten Verdünnungen auch auf das Bedürfnis stoßen, andere für die auferlegten Versagungen verantwortlich zu machen und sich an ihnen schadlos zu halten.
Bargeld vs. Bezahlkarten: Erst Asylsuchende, dann wer?
Aktuellstes Beispiel ist die Debatte um Bezahlkarten statt Bargeld als Lohnersatzleistung – zunächst für Asylsuchende, wie es Bund und Länder bereits auf den Weg gebracht haben – vorgeblich, um zu verhindern, dass Teile des bescheidenen Betrags an Angehörige im Ausland transferiert werden.
Dieser Betrag ist mit 460 Euro pro Monat für Alleinstehende von Haus aus geringer als der Bürgergeld-Regelsatz mit 563 Euro. Die Grünen haben innerhalb der Ampel-Koalition noch am ehesten Bedenken, dass die Bezahlkarte zum Instrument der Gängelung wird.
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Ein CDU-Politiker fordert dagegen schon die Ausweitung des Modells auf Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, die Bürgergeld beziehen: "Nichts spricht dagegen, eine Ausweitung der Bezahlkarte auf Bürgergeld-Empfänger zu diskutieren", sagte der Stuttgarter Bundestagsabgeordnete Maximilian Mörseburg diese Woche der Bild.
"Insbesondere für die kleine Gruppe der Totalverweigerer müssen wir eine Lösung finden, die ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet, aber gleichzeitig auch klarmacht, was von den Menschen erwartet wird, die gerade keine Arbeit finden", befand er.
Abschiebung oder Totalsperre: Überwachen und strafen?
Die Linke kritisiert Bezahlkarten dagegen als "unnötiges Kontroll- und Überwachungssystem, das Menschen zur Unmündigkeit degradiert und ihnen Würde und Eigenständigkeit nimmt". Aber Teile der Bevölkerung wünschen anderen vielleicht genau das – wenn nicht gleich die Abschiebung oder die Totalsperre bei Lohnersatzleistungen.
"Die da, die schränken sich nicht so ein wie ich", lautet das meist unausgesprochene Motto dieses Ressentiments. Wenn also das Suchen nach einem Sündenbock ein stets vorhandenes und nie gänzlich zu tilgendes Phänomen darstellt, gibt es doch gesellschaftlichen Umstände, die es gefährlich anwachsen lassen.
Umfassende Krise und Angriff auf die Identität
Es sind Phasen der gesellschaftlichen Umbrüche, der wirtschaftlichen Depression und sozialen Krisen. An der Schwelle zur vierten industriellen Revolution treten wir in eine solche umfassende Krise ein. Die erste basierte auf Eisen und Kohle, die zweite auf der Elektrizität und der Fließproduktion, die dritte auf der Computerisierung.
Die jetzt einsetzende vierte industrielle Revolution besteht im Übergang zur automatisierten Produktion und dem Einsatz von Robotern. Sie umfasst nicht nur den Sektor der Produktion, sondern auch den Innenbau der Menschen. Diese werden genötigt, sich weitgehend zu flexibilisieren und eine immer nur provisorische und fragmentarische Identität auszubilden.
Sie sollen keine festen Bindungen mehr eingehen, sondern sich auf mehr oder weniger nomadische Existenzweisen und ständig sich wandelnde Lebens- und Arbeitsbedingungen vorbereiten. Das fällt nicht allen Menschen leicht, viele wünschen sich alte Gewissheiten und stationäre Lebensverhältnisse zurück.
Rechtspopulismus und Sündenbocksuche in Zeiten des Wandels
Ihre Fähigkeit, Veränderungen verarbeiten zu können, ist erschöpft, sie wollen, dass sich endlich nichts mehr ändert und alles so bleibt wie es ist, oder sogar wieder so wird, wie es mal war. Das scheint der subjektive Nährboden für den rechten Populismus zu sein.
Und für die Spaltung der Gesellschaft in Gruppen und Schichten, die für Veränderungen offen und bereit sind und von ihnen profitieren, und solche, die genug davon haben und durch die ökonomisch und sozial verlieren.
Migration als Symbol für das Neue und Fremde, das ängstigt
Bei letzterer Gruppe ist das Bedürfnis nach Sündenböcken besonders virulent. Migranten und Asylsuchende symbolisieren all das Fremde, was neu ist und ängstigt. Gegen sie sollen Grenzen hochgezogen und ihr Zuzug eingeschränkt werden.
Die Grünen gelten als die politische Kraft, die den Wandel vorantreibt, deshalb konzentriert sich der Hass vieler auf sie. Seit Monaten werden ihre Repräsentanten überall, wo sie auftreten, ausgebuht, niedergebrüllt, beschimpft und beleidigt.
Die Grünen als Überbringer einer schlechten Botschaft
Die Wut entlädt sich klassisch gegen den Boten, der die unangenehme Botschaft überbringt, in diesem Fall die von der Notwendigkeit des ökologischen Umbaus und des Verzichts auf manche liebgewordene Gewohnheit. Die Grünen sind der Sündenbock, auf den die kollektive Malaise verschoben werden kann.
Er ist das beste Gefäß für alle möglichen Bedrohtheits- und Unsicherheitsgefühle und ein probates Mittel, das in Klassengesellschaften zwecks systemkonformer Entschärfung von Konflikten eingesetzt wird.
Das Sündenbockbedürfnis wird erst zur Ruhe kommen, wenn den Menschen durch die herrschenden Lebens- und Arbeitsverhältnisse in weniger Bosheit eingepresst wird.
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er ist Verfasser einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist. Seit 2020 betreibt er unter dem Titel "Durchhalteprosa" einen eigenen Blog.