Atlantic Council: US-Präsident sollte Russland mit atomarer Vergeltung drohen

US-Atomwaffentest auf dem Eniwetok-Atoll der Marshall-Inseln 1952. Bild: US Government / CC BY-NC 2.0

US-Denkfabrik fordert Biden auf, Russland mit Nuklearwaffen zu drohen. Sollte der Kreml taktische Atomwaffen in der Ukraine zünden, müsse militärisch eskaliert werden. Telepolis dokumentiert das Memo an den Präsidenten.

Bevor wir das Memo an den US-Präsidenten vom Atlantic Council dokumentieren, ein paar Anmerkungen, die die Empfehlungen der US-Denkfabrik einordnen helfen. Denn während der Atlantic Council der US-Regierung empfiehlt, Russland mit dem Einsatz von Atomwaffen zu drohen, werden die Stimmen in den USA lauter, die eindringlich zur Deeskalation mahnen.

Während die ukrainischen Streitkräfte nach fast sieben Monaten Krieg Geländegewinne verzeichnen können, warnt Militärexperte Lyle Goldstein von der Brown University, dass die Erhöhung der Militärausgaben durch die Vereinigten Staaten als Reaktion auf Russland zu einer nuklearen Konfrontation führen könnte.

In einer Erklärung des Costs of War Project der Brown University zum Bericht von Goldstein mit dem Titel "Bedrohungsinflation, militärische Schwäche Russlands und das daraus resultierende nukleare Paradoxon: Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Militärausgaben der USA" heißt es:

"Die russische Aggression in der Ukraine erfordert eine internationale Antwort. Sie rechtfertigt jedoch keine Erhöhung des US-Militärbudgets, die letztlich die Spannungen mit Russland eskalieren und uns erneut auf einen gefährlichen Weg führen könnten."

Militärexperte Goldstein erinnert daran, wie nahe die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion bereits in der Vergangenheit an einem Atomkrieg waren, und fordert in Hinblick auf den 60. Jahrestag der Kubakrise, dass es "zwingend notwendig ist, die Spannungen mit Moskau, die dem Kalten Krieg ähneln, abzubauen und der Verringerung des nuklearen Risikos Priorität einzuräumen".

Dagegen positioniert sich das unten dokumentierte Memo an den US-Präsidenten Biden des Atlantic Councils, das der US-Administration empfiehlt, nukleare Drohungen an Russland zu richten, um eine vermeintliche nukleare Strategie des Kreml im Ukraine-Krieg abzuschrecken. Das Atlantic Council schreibt zum Charakter des Memos: "Was muss der US-Präsident wissen? In unserer neuen Reihe Memo an den Präsidenten geben unsere Experten, die auf ihre Erfahrung als Berater auf höchster Regierungsebene zurückgreifen können, eine Antwort auf die drängendsten Fragen der Welt".

Der Atlantic Council of the United States ist eine äußerst einflussreiche Denkfabrik und Lobbyorganisation. Sie wird von multinationalen Konzernen und ehemaligen ranghohen Regierungsvertretern und Ex-Militärs geleitet.

Bei Lobbypedia heißt es zum Atlantic Council: "Über letztere (Ex-Regierungsvertreter und -Militärs, Telepolis) stellt die Organisation Kontakte zu den Regierungsspitzen im transatlantischen Bereich her, um ihre – auch interessengeleiteten – Vorstellungen von Wirtschaft, Politik und Sicherheit in die offizielle Politik einzubringen".

David Goeßmann, Telepolis

Telepolis dokumentiert im Folgenden den Inhalt des Memos an den US-Präsidenten:

Memo an den Präsidenten: Wie man Russland vom Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine abhält – und wie man reagiert, wenn die Abschreckung versagt

Autor: Matthew Kroenig

Das Fazit vorweg: Russland könnte Atomwaffen einsetzen, um seine Ziele im Ukraine-Krieg zu erreichen – ein Risiko, das im Zuge der Konfrontation der russischen Streitkräfte mit den ukrainischen Gegenoffensiven nur noch größer geworden ist. Ein solcher Einsatz von Atomwaffen könnte die militärischen Ziele des Kremls fördern, die Interessen der USA weltweit untergraben und eine humanitäre Katastrophe auslösen, wie es sie seit 1945 nicht mehr gegeben hat.

Um eine solche potenzielle Katastrophe abzuschrecken, sollten die Vereinigten Staaten öffentlich und gezielt vage mit ernsten Konsequenzen für jeden russischen Atomwaffeneinsatz drohen und darauf vorbereitet sein, konventionelle Militärschläge gegen russische Streitkräfte zu führen, falls die Abschreckung versagt.

Hintergrund: Russischer Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine ist möglich und würde den Interessen der USA schaden

Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine seit Anfang des Jahres haben die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten und Partner mit militärischer Hilfe für die Ukraine, Sanktionen gegen die russische Wirtschaft und Verstärkungen für die Ostflanke der Nato reagiert. Bislang haben die USA und ihre Verbündeten ein direktes militärisches Eingreifen gegen Russland ausgeschlossen.

Nukleare Drohungen gehören zum Kernbestandteil der russischen Militärstrategie, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass der russische Präsident Wladimir Putin einen Nuklearschlag gegen die Ukraine anordnen könnte.

  • Russlands so genannte "Eskalieren-um-zu-deeskalieren"-Strategie sieht nukleare Drohungen und, wenn nötig, einen begrenzten Einsatz von Atomwaffen vor, um ein Ende des Konflikts zu für Moskau günstigen Bedingungen zu erzwingen.
  • Putin hat eine Reihe nuklearer Drohungen gegen die Vereinigten Staaten und den Westen ausgesprochen, um sie daran zu hindern, der Ukraine zur Hilfe zu kommen.
  • Darüber hinaus hat Russland zweifach nutzbare Waffen (die sowohl nukleare als auch konventionelle Sprengköpfe tragen können) gegen die Ukraine eingesetzt und Übungen mit seinen Atomstreitkräften durchgeführt.
  • Putin könnte glauben, dass er Atomwaffen einsetzen könnte, um die Vereinigten Staaten und den Westen zu zwingen, ihre Unterstützung für die Ukraine einzustellen.
  • Russland verfügt über ein breites Spektrum an Optionen für nicht-strategische Nuklearangriffe und könnte eine oder mehrere der Tausenden von Nuklearwaffen mit geringer Reichweite einsetzen, über die es bereits verfügt. Russland könnte derartige Atomwaffen in begrenztem Umfang gegen ukrainische Streitkräfte, Stützpunkte, Logistikzentren und sogar Städte einsetzen.

Der Einsatz russischer Atomwaffen würde den Interessen der USA im Krieg in der Ukraine und weltweit schaden.

  • Ein solcher Schlag könnte eine humanitäre Katastrophe auslösen, dem ukrainischen Militär einen vernichtenden Schlag versetzen, das westliche Bündnis spalten und Kiew zum Friedenseingeständnis zwingen.
  • Er würde zudem ein fast acht Jahrzehnte altes Tabu bezüglich des Atomwaffeneinsatzes brechen. Er könnte den künftigen Gebrauch von Atomwaffen wahrscheinlicher machen, wenn Staaten (z. B. China) erkennen, dass sie mit Atomwaffen ihre Ziele erreichen können, ohne dass es zu ernsthaften militärischen Vergeltungsmaßnahmen seitens der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten kommt. Außerdem könnte es zur Verbreitung von Nuklearwaffen führen, wenn Staaten befürchten, dass Kernwaffen gegen sie eingesetzt werden könnten, oder wenn US-Verbündete glauben, dass Washington auf einen nuklearen Angriff nicht reagieren wird.

Empfehlungen für die US-Politik zur Verhinderung des russischen Einsatzes von Atomwaffen

Um Russland vom Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine abzuhalten, sollten die Vereinigten Staaten eine deutlichere Abschreckungsdrohung aussprechen. Sie könnten zwischen vagen oder ausdrücklichen Drohungen wählen, die öffentlich oder privat ausgesprochen werden.

  • Gegenwärtig könnte Putin glauben, dass er Atomwaffen einsetzen könnte, ohne dass eine nennenswerte Reaktion des Westens erfolgt. Eine deutlichere Abschreckungsdrohung der USA würde dazu beitragen, ihn von dieser Vorstellung abzubringen.
  • Eine vage Drohung (z.B. "Russlands Entscheidung, in der Ukraine Atomwaffen einzusetzen, würde die schwerwiegendsten Konsequenzen nach sich ziehen") hat den Vorteil, dass sie Russland klarmacht, dass der Einsatz von Atomwaffen Konsequenzen haben würde, ohne die Vereinigten Staaten zu einem bestimmten Vorgehen zu verpflichten.
  • Eine konkretere Drohung (z.B. "Es wird unsere Politik sein, jeden nuklearen Angriff auf die Ukraine als einen Angriff auf die Vereinigten Staaten zu betrachten, der eine umfassende Vergeltungsmaßnahme erfordert") hätte einen größeren Abschreckungswert, würde aber die Flexibilität der USA einschränken.
  • Während eine vage Drohung als unverbindliche Geste abgetan werden könnte, besteht bei einer konkreteren Drohung die Gefahr, dass eine "rote Linie" gezogen wird, die Washington nicht durchsetzen kann, so dass eine vage Drohung die bessere Option ist.
  • Drohungen könnten privat ausgesprochen werden, aber eine öffentliche Drohung wäre wahrscheinlich wirksamer, um Russland abzuschrecken und den Verbündeten Sicherheit zu geben, da die Glaubwürdigkeit der USA vor aller Welt auf dem Spiel stünde.

Empfehlungen für eine US-Reaktion auf einen russischen Atomwaffeneinsatz

Eine deutlichere Drohung sollte ausreichen, um einen russischen Nuklearangriff abzuschrecken, aber Washington muss darauf vorbereitet sein, seine Drohung wahr zu machen, wenn die Abschreckung versagt.

Vergeltungsmaßnahme 1: Die Vereinigten Staaten könnten ihr derzeitiges Vorgehen verschärfen: Ausweitung der Sanktionen gegen Russland, weitere internationale Isolierung Moskaus, Aufrüstung der Ukraine mit moderneren Waffen und verstärkte Anstrengungen zur militärischen Stärkung Osteuropas.

  • Der Einsatz russischer Nuklearwaffen könnte eine Gelegenheit sein, Länder, die sich bisher geweigert haben – wie Indien und möglicherweise sogar China – davon zu überzeugen, sich an einer Eskalation der Sanktionen zu beteiligen.
  • Die Vereinigten Staaten könnten der Ukraine modernere Waffen zur Verfügung stellen, um tiefer in russisches Territorium einzudringen und den ukrainischen Einheiten zu helfen, in einem nuklearen Umfeld zu operieren. Dazu könnte die Lieferung von Jodtabletten, Strahlenschutzanzügen, Geigerzählern und anderem relevanten Material gehören.
  • Die Vereinigten Staaten und die Nato könnten ihre militärische Präsenz in Osteuropa verstärken, u.a. durch die Aufstockung der konventionellen Streitkräfte und die Verlegung von US-Atomwaffen nach Polen. Sie könnten die Entwicklung zusätzlicher Arten von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft für den Einsatz in Europa ankündigen, wie z.B. nukleare Luft-Boden-Raketen (Joint Air-to-Surface Standoff Missiles) oder bodengestützte Marschflugkörper (Ground-Launched Cruise Missiles).
  • Die Vereinigten Staaten könnten in nukleare Alarmbereitschaft versetzt werden, um Angriffe auf Nato-Verbündete abzuschrecken. Dazu könnten sie sichtbare Schritte unternehmen, um Sprengköpfe auf Bombern zu platzieren und Atom-U-Boote auf See zu schicken.

Vorteile: Diese Schritte würden Russland Kosten verursachen, und Washington könnte plausibel behaupten, dass es seine Abschreckungsdrohung wahr gemacht hat.

Nachteile: Es besteht die Gefahr, dass viele Freunde und Feinde diese Maßnahmen als unzureichende Reaktion auf einen nuklearen Angriff ansehen werden.

Vergeltungsoption 2: Die Vereinigten Staaten könnten mit militärischer Gewalt reagieren.

Option 2A: Die Vereinigten Staaten könnten einen begrenzten konventionellen Schlag gegen die direkt an dem Angriff beteiligten russischen Streitkräfte oder Stützpunkte führen. Eine robustere Version dieser Option wäre ein Kriegseintritt an der Seite der Ukraine.

Vorteile: Ein direktes militärisches Eingreifen der USA würde weithin als sinnvolle Reaktion wahrgenommen, könnte die nukleare Abschreckung in der Ukraine wiederherstellen und das globale Atomtabu stärken.

Nachteile: Eine militärische Reaktion erhöht das Risiko einer Eskalation zu einem direkten Krieg zwischen Russland und der Nato. Russland könnte zu dem Schluss kommen, dass die Vereinigten Staaten nicht bereit sind, Atomwaffen einzusetzen, was weitere russische Atomschläge begünstigen würde. Einige Verbündete der USA könnten eine konventionelle Antwort auf einen nuklearen Angriff immer noch als unzureichend ansehen.

Option 2B: Die Vereinigten Staaten könnten Atomwaffen einsetzen, um auf einen weiteren russischen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine zu reagieren und davon abzuschrecken.

Vorteile: Eine nukleare Antwort wird höchstwahrscheinlich die Abschreckung von Gegnern verstärken, Verbündeten Sicherheit geben und das globale Tabu gegen den Einsatz von Atomwaffen in der Zukunft wiederherstellen, indem sie zeigt, dass Länder Atomwaffen nicht ohne schlimme Folgen einsetzen können. Sowohl Verbündete als auch Gegner könnten überrascht sein oder Schwäche empfinden, wenn die Vereinigten Staaten auf einen nuklearen Angriff auf die Ukraine nicht in gleicher Weise reagieren.

Nachteile: Eine Entscheidung der USA zum Einsatz von Atomwaffen würde die Frage aufwerfen, welches russische Ziel mit welcher US-Atomwaffe getroffen werden soll. Ein US-Atomschlag könnte die Abschreckung wiederherstellen, aber er könnte auch einen russischen nuklearen Vergeltungsschlag provozieren, was das Risiko eines größeren nuklearen Schlagabtauschs und einer weiteren humanitären Katastrophe erhöhen würde.

In Anbetracht der oben genannten Kosten und Vorteile könnte die beste Reaktion der USA im Falle eines Scheiterns der Abschreckung eine Mischung aus den Optionen 1 und 2A sein: eine Intensivierung der laufenden Bemühungen zur Bekämpfung der russischen Aggression in der Ukraine und ein begrenzter konventioneller Schlag gegen die russischen Streitkräfte oder Stützpunkte, die den Nuklearangriff durchgeführt haben.

Matthew Kroenig ist der amtierende Direktor des Scowcroft Center for Strategy and Security des Atlantic Council. Zuvor war er im Verteidigungsministerium und bei den Nachrichtendiensten in den Regierungen Bush, Obama und Trump tätig, unter anderem in den Abteilungen Strategie, Naher Osten sowie Nuklear- und Raketenabwehr im Büro des Verteidigungsministers und in der Strategic Assessments Group der Central Intelligence Agency.

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